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Meter bis zu ihrer Haustür. Unterdessen war das Wetter erheblich schlechter geworden. Ein eisig kalter Wind fegte durch die Straßen und wirbelte das heruntergefallene Laub der Bäume auf. Vor ihnen ging eine Frau, eine kleine dünne Frau, die offensichtlich Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leicht schwankend blieb sie jetzt erschöpft vor der großen hohen Hauseingangstür stehen, von der man sowohl das Vorderhaus als auch das Hinterhaus erreichen konnte. Sie suchte in ihrer Handtasche offenbar nach dem Schlüssel, konnte ihn aber nicht finden.

      Typisch Frau, dachte Henrik. Laut sagte er jedoch, nachdem er sie forschend gemustert hatte: »Ist Ihnen nicht gut?«

      »Doch, es geht mir gut«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Ich habe nur einen langen Arbeitstag hinter mir und bin sehr müde.«

      Dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, verschwieg sie.

      Natürlich gab es auch Menschen, die am Samstag arbeiten mussten. Henrik verkniff sich daher eine diesbezügliche Äußerung, außerdem hatte er die Frau inzwischen erkannt. So weit er wusste, hatte sie eine der Wohnungen im Hinterhaus gemietet und lebte dort mutterseelenallein. Und sie hieß Gitta Wenzel.

      Weil sie noch immer nach ihrem Schlüssel suchte und diesen nicht fand, schloss er die Tür auf, schob seinen Arm unter den ihren und gleichzeitig den Kinderwagen. So gelangten sie in den breiten Gang, der die Verbindung vom Vorderhaus zum Hinterhaus darstellte.

      In diesem Augenblick knurrte Gittas Magen so laut, dass Renis Vater es nicht überhören konnte. Unwillkürlich fragte er: »Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«

      Sie antwortete nicht, sondern taumelte in Richtung Hinterhof, fiel hin und blieb liegen.

      Henrik folgte ihr erschrocken, kniete neben ihr nieder und stellte fest, dass sie zwar nicht ohnmächtig, aber wohl doch am Ende ihrer Kräfte war.

      Sie versuchte aufzustehen, was ihr mit seiner Hilfe dann auch gelang. Und sie schüttelte den Kopf, als er vorsichtig fragte: »Haben Sie jemanden, der sich jetzt um Sie kümmert?«

      »Dann kommen Sie erst einmal mit zu mir«, bestimmte er nachdrücklich. »Ich heiße Henrik Hollstein und wohne hier schon seit Jahren. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

      »Aber – das geht doch – nicht«, flüsterte sie, worauf er ihren Arm nahm und sie zu seiner Wohnungstür führte.

      Dabei sagte er aufmunternd: »Doch, es geht. Und nun zieren Sie sich nicht länger. Meine Tochter wird nämlich allmählich ungeduldig, und Sie brauchen ein bisschen Pflege.«

      Kurz darauf befanden sie sich in seinem Wohnzimmer, wo Gitta sich auf die Couch setzen konnte. Er selbst hatte Reni inzwischen aus dem Kinderwagen genommen und befreite sie von Anorak, Mütze, Handschuhen und Stiefelchen. Dabei krähte die Kleine vergnügt. Sie war auch zufrieden, als er sie in das Laufgitter setzte und ihr einen Zwieback in die Patschhand drückte.

      »So, nun sind Sie dran«, sagte er danach zu Gitta. »Möchten Sie Tee oder Kaffee und vielleicht auch ein belegtes Brötchen?«

      »Nein, nichts dergleichen. Höchstens ein Glas Wasser und einen Zwieback.«

      »Etwas Warmes wäre aber besser. Das sagt meine Oma auch immer.«

      »Nein, das andere reicht schon«, wehrte sie leise ab. »Außerdem wird Ihre Frau nicht erfreut sein, wenn sie mich hier sieht.«

      »Ich habe keine Frau mehr, wir leben getrennt und werden uns bald scheiden lassen«, gab er in nüchternem Ton zurück.

      »Und die Kleine?«

      »Die wird bei mir bleiben. Also, was soll ich kochen?«

      »Wenn Sie Kräutertee haben …«

      »Habe ich.« Henrik hatte Gitta inzwischen mit einer warmen Decke versorgt und ging anschließend zur Küche, wo er eine Kanne Tee aufbrühte, die gerade erst gekauften Brötchen mit Butter bestrich und mit Aufschnitt belegte.

      Die junge Frau machte sich unterdessen heftige Vorwürfe. Um schnell zu etwas mehr Geld zu kommen, damit sie sich endlich Wohnzimmermöbel kaufen konnte, hatte sie einen Nebenjob angenommen, putzte nun an jedem Samstag die Wohnungen von zwei alten und ziemlich mäkligen Damen und hielt ihren übrigen Lebensunterhalt sowie die Heizung in ihrer Wohnung auf Sparflamme.

      Die Quittung für diesen körperlichen Raubbau hatte sie heute bekommen. Bei diesen Gedanken liefen ihr die Tränen über die Wangen.

      »So, nun essen und trinken Sie erst einmal etwas.« Henrik schien ihre verweinten Augen nicht zu sehen. Er stellte das Tablett mit Tee und Imbiss auf den Tisch und setzte dann erklärend hinzu: »Ich bin in der Küche und versorge meine Tochter. Wenn Sie etwas brauchen sollten, müssen Sie rufen.«

      Sie nickte nur, trank dann in kleinen Schlucken die Tasse Tee zur Hälfte leer und aß ein Brötchen ganz langsam auf. Ach, war das gut. Und warm war es hier auch.

      Sie schloss die Augen und dachte noch: Nur für eine kleine Weile, dann sank sie zur Seite.

      Als Henrik zwanzig Minuten später nach ihr sah, schlief sie so fest, dass sie ihn gar nicht hörte. Sie bemerkte auch nicht, dass er die Decke über sie breitete, das Tablett nahm und anschließend den Raum wieder verließ.

      *

      Als sie erwachte, war es bereits nach zwanzig Uhr. Verstört blickte sie um sich, sah im Schein einer kleinen Wandleuchte eine fremde Umgebung und begriff erst allmählich, dass sie gar nicht zu Hause war, sondern bei einem Mann, der Henrik Hollstein hieß und ein kleines Kind hatte. Er schien nett und fürsorglich zu sein, hatte nicht viel gefragt, sondern ihr einfach nur geholfen.

      Doch wo war er jetzt?

      Sie erhob sich und folgte dem Lichtschein, der sie zur Küche führte. Und dort stand er am Tisch, faltete Wäsche zusammen und legte diese in eine Plastikwanne.

      »Es geht mir wieder besser«, begann sie zaghaft, während sie in der geöffneten Tür stehen blieb. »Vielen Dank, Herr Hollstein, dass Sie mir geholfen haben. Ich werde mich gern revanchieren, falls Sie mal Hilfe brauchen sollten.«

      Er lächelte nachsichtig. Diese kleine magere Frau hatte mit sich selbst zu tun, aber direkt abweisen wollte er sie auch nicht. Und deshalb antwortete er: »Es könnte schon mal passieren, dass ich jemanden brauche. Ein alleinstehender Vater hat es auch nicht so leicht.«

      »Nein, bestimmt nicht.« Sie ging zur Garderobe, wo ihre Jacke hing und ihre Schuhe standen, zog sich an, nahm ihre Handtasche, wünschte ihm noch einen schönen Abend und wandte sich zur Tür.

      »Warten Sie, ich bringe Sie nach Hause.« Er warf sich eine Jacke über, während sie protestierte: »Ich kann doch allein gehen, bleiben Sie lieber bei Ihrem Kind.«

      »Reni schläft schon längst und wird mich in diesen paar Minuten nicht vermissen.«

      Gitta sagte nun nichts mehr. Sie ließ sich von ihm bis zu ihrer Wohnungstür bringen und bedankte sich erneut.

      »Schon gut«, erwiderte er und dachte: Vielleicht brauche ich sie wirklich einmal, auch wenn ich mir das jetzt noch nicht vorstellen kann.

      Und sie fragte sich, warum die Eltern des kleinen Mädchens sich wohl getrennt hatten – und warum das Kind nicht bei der Mutter aufwuchs.

      *

      In der Vorweihnachtszeit hatte Gitta zumindest so viel Geld beisammen, dass sie ihren Nebenjob wieder aufgeben und sich Couch und Sessel sowie einen dazu passenden Tisch kaufen konnte. Es gab ja auch preiswerte Modelle. Mit vor Freude geröteten Wangen verfolgte sie zuerst die Arbeit der Möbelträger und machte sich anschließend auf den Weg, um sich, was sehr selten vorkam, etwas Kuchen zu kaufen.

      Unterwegs traf sie Henrik Hollstein, der offenbar auch zum Bäcker gehen wollte. Seine Tochter im Wagen vor sich her schiebend, grüßte er die Nachbarin und stellte dann lächelnd fest: »Sie haben sich gut erholt. Das freut mich.«

      »Ja, es geht mir schon viel besser. Ich muss samstags nun nicht mehr arbeiten. Das war wohl doch zu viel für mich. Und heute habe ich endlich

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