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Herr Doktor Beck, der jedesmal verbindlich lächelnd, eine Kollektion Musterzähne entblößte. Und hinter ihm — durch die Türspalte konnte man ihn sehen — stand jener Stuhl, auf dem man „erlöst“ wurde.

      Frau Lemke verfiel allmählich in eine Art Dämmerungszustand — sie wunderte sich, daß die Reihe plötzlich schon an ihr war, daß sie jetzt in dem Nebenzimmer stand und ihre Leidensgeschichte erzählte. Aber auf alles, was sie da sagte, machte der elegante Herr Doktor nur immer einladende Handbewegungen nach dem Stuhl.

      „Ja, ick setz’ mir ja schon uff det kleene Schaffot, lassen Se mir doch aba mal erst azehlen, sonst reißen Se mir nachher ’n falschen raus —“ sagte sie entmutigt. „Et is villeicht bloß nötich, det Sie den Nerv töten oda ’ne Plombe rinmachen, et brauch ja nich imma jleich jehauen und jestochen zu sind!“

      Doch da saß sie schon auf dem Stuhl, sah die Kollektion blendender Musterzähne plötzlich dicht vor sich, fühlte eine kräftige Hand an ihrem Hinterkopf und wurde zugleich dringend ersucht, den Mund nicht immerfort auf- und zu-, sondern nur aufzumachen.

      Etwas Grausames, Hartes, Kaltes umklammerte plötzlich den Quälgeist — und dann war’s geschehen!

      Verstört blickte Frau Lemke auf den eleganten Herrn Doktor, der lächelnd ein blutiges Knöchlein auf die Marmorplatte des Tischchens legte.

      „Wo kann ick ’n ’mal ausspucken?“ brachte Frau Lemke mühsam hervor, als aber der Doktor auf das hübsche, blaue Glasgefäß neben dem Stuhl zeigte, gab sie ihm pantomimisch zu verstehen, daß ihr dieses zum Ausspucken doch zu schade sei.

      Da sie der Doktor jedoch in liebenswürdigster Weise ermutigte, ließ sie sich nicht länger nötigen. „Wenn schon — denn schon“, sagte sie innehaltend, „uff die Rechnung kommt’s ja doch!“

      Und dann ging sie nach dem Tischchen und nahm das blutige Knöchlein an sich. „Sehste, da biste“, sagte sie, „nu seh ick dir ma’ endlich — du vaflixtes Biest du! Und so’n Dreck kann een jahrelang pisacken und die Nachtruhe stören, soll man det for möchlich halten?“

      Sie nahm ihr Taschentuch vor und knüpfte den Zahn hinein. „Den laß ick mir in’n Ring fassen zum ewijen Anjedenken!“

      „Es werden noch mehr dazukommen“, sagte Herr Doktor Beck.

      „Woso?“ fragte sie erschrocken und stocherte mit der Zunge im Mund, der ihr „janz an’ners“ vorkam.

      „Es wäre sehr gut, wenn Sie den ganzen Mund in Ordnung bringen ließen, die Zähne sind in einem sehr vernachlässigten Zustand, und über kurz oder lang wird sogar ein künstliches Gebiß notwendig sein!“

      „Hach, du lieba Jott und Vata —“ sagte Frau Lemke, „det sind ja nette Aussichten — und ick dachte, ick bin die janze Schohse nu for imma los!“

      Herr Edwin und Fräulein Lieschen

      „Ick bin sonst nich dafor“ — sagte Frau Lemke — „det man sich, wie’t manche Leite machen, jleich nach’n Mittagsessen hinlecht und schnarcht. Nach die Nacht heite muß ick aberst ’n bisken Ruhe haben — vahaltet eich also jefälligst still und stehrt eire kranke Mutta nich!“

      Sie sagte das zu ihren beiden Kindern, dem „jungen Herrn Edwin“ und dem „Fräulein Lieschen“. Als sie aber den bedeutungsvollen Blick auffing, den sich beide zuwarfen, setzte sie mit nachdrücklicher Betonung hinzu:„Ick schlafe aba höchstens ’ne halbe Stunde, denn komm’ ick nachsehen, und wenn ihr etwan Dummheeten vorhabt, denn laßt sie eich man vajehen, mit mir is heite nich zu spaßen!“

      „Ihr könnt ja nachher bei mir runtakommen“, sagte der alte Lemke, als er jetzt vom Tische aufstand, seine Serviette faltete und in den Ring steckte. „Ihr laßt eich man aba bloß bei eiern Jroßvata sehen, wenn ihr wat jeschenkt haben wollt!“

      „Na — Vata — und du?“ fragte Frau Lemke ihren Mann.

      „Ick werd’ dir schon nich stehren“, sagte Herr Lemke, „ick werd’ mir man ooch ’n bisken lejen, denn bei die Zucht heite Nacht hab’ ick ja ooch keen Ooje zumachen können!“

      „Na, denn hat ja also jeda wat vor“, sagte Frau Lemke, „denn werd’ ick nur noch die Minna Bescheid sagen, det sie nich so bei’t Abwaschen klappert …“

      Großvata wartete vergeblich — weder Lieschen noch Edwin kam. „Na, denn nich —“ sagte der alte Mann verstimmt, zog den Schlafrock aus, nahm den schwarzen Rock aus dem Schrank und machte sich zum Ausgehen fertig.

      Als ihn dann die Leute aus der Nachbarschaft mit der kleinen grünen Gießkanne in der Hand die Potsdamer Straße nach Schöneberg marschieren sahen, stießen sie sich an und sagten: „Et is riehrend, nu jeht er wieda seene Olle bejießen.“

      Ja, das ließ sich der alte Lemke nicht nehmen, trotzdem ein Gärtner das Grab der Verstorbenen sorgfältig pflegte, ging Großvater, so oft er nur konnte, nach dem Kirchhof hinaus. Auf diesem Wege, in diesen stillen Stunden, lebte er noch einmal die ganze Vergangenheit durch. Dort — wo damals der große, schattige Biergarten gewesen war, in dem er mit seiner Frau so lange gewirtschaftet, blieb er regelmäßig stehen und suchte sich zu orientieren. Eine große, vierstöckige Mietskaserne erhob sich jetzt auf dem Platze dort — wenn man aber durch den Hausflur hineinsah, konnte man immer noch einen der alten Nußbäume erblicken, die eine Zierde des Gartens gewesen waren. Freilich — trübselig genug sah der Baum da in dem kleinen Hofe zwischen den Häusermauern aus, und Großvater wäre es fast lieber gewesen, wenn man den Baum gefällt, damit er sich nicht noch länger zu quälen brauchte.

      Und dann stampfte Großvater weiter — an den Vergnügungslokalen vorbei, aus denen die Militärmusik und das Stimmengewirr herüberschallte — immer weiter, bis er den Friedhof erreichte.

      Die Menschen, die sich auf dem stillen Fleckchen Erde trafen, kannten sich alle, und die meisten zogen artig grüßend den Hut oder nickten freundlich, wenn sie den „ollen Lemke“ sahen. Das oftmalige Zusammentreffen hier hatte, wenn auch nur zu stummen Bekanntschaften geführt. „Jroßvater Lemke“ wußte ganz genau, was jeden hertrieb. Dem dort, mit den Kindern, war die Frau, diesem jungen Mädchen da die Mutter gestorben. Der wildeste Schmerz hatte sich ausgetobt, man klagte und jammerte nicht mehr laut, aber die Augen wurden doch immer wieder feucht, wenn man den Hügel wiedersah, unter dem das Liebste schlummerte.

      Auf die Ausschmückung des Grabes verwandten alle eine rührende Sorgfalt, jedes Blättchen, jeder Grashalm wurde gepflegt, unermüdlich in der Gießkanne das Wasser vom Brunnen hergetragen. Dann — nachher — wenn es nichts mehr zu tun gab, saßen sie bei dem Toten und erzählten ihm, was das Leben noch gebracht. Wanderten vielleicht auch musternd durch die Gräberreihen, fanden eine offene Grube — die Schaufeln daneben und die Balken schon darübergelegt, um den Sarg hinablassen zu können.

      Dann wußte man, daß ein neues Begräbnis bald stattfinden würde und blieb, bis draußen vor dem Kirchhofsportal die Kutschen vorfuhren. Wenn nachher der Trauerzug nahte, strömten alle, die auf dem Friedhof waren, herbei, um an der Feier teilzunehmen. — — —

      Während Großvater da draußen weilte, Herr und Frau Lemke sich durch einen gesunden Nachmittagsschlaf von den Strapazen und Kümmernissen der Nacht erholten, saßen Herr Edwin und Fräulein Lieschen in der Berliner Stube und suchten sich ebenfalls mit ihrem Dasein abzufinden.

      Lieschen, die bei Fräulein Prix in die Höhere Töchterschule ging, stellte trübsinnige Betrachtungen über ihr Stammbuch an. Wie schön und kostbar hatte das Album ausgesehen, als es noch seinen Pappkarton besessen. Da war es wie ein Heiligtum behandelt worden — und Fräulein Prix, dann der Religionslehrer, Herr Klein, und Großvater hatten sich mit Schönschrift darin auf den ersten Seiten verewigt. Als der Karton aber eines Tages „ganz von selbst kaputt“ gegangen war, hatte sich auch die Klassenerste in dem Album betätigen dürfen. Was sie da eingeschrieben — diese Lobpreisung der Tugend — war von allen „sehr schön“ gefunden worden, denn es war sozusagen ein Pendant zu dem Verse des Herrn Religionslehrers gewesen.

      Dann hatte Lieschen das Album

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