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müssen wir die Wörter an die richtige Stelle setzen, wenn wir wissen wollen, wer der Mörder ist. Und ...«

      Ich fiel ihr ins Wort und sagte: »Zwei Dinge wüsste ich gern. Erstens: Vorhin hast du gesagt, einer der Gründe, aus denen es mir schwer fallen würde, Altnordisch zu lernen, wäre, dass ich Geld von dir leihen wollte. Und zweitens: Wieso sind die Fälle verschwunden – schließlich benutzen wir sie nicht mehr?«

      Anna nahm die Brille ab und zum ersten Mal konnte ich ihre Augen richtig sehen. Sie waren fast gelb und sie waren traurig und froh zugleich. Anna hauchte ihre Brille an und wischte sie dann mit einem Taschentuch ab, ehe sie sie wieder aufsetzte. Dann steckte sie sich ein Himbeerbonbon in den Mund und sagte: »Die beiden Fragen hängen zusammen. Nehmen wir die zweite zuerst. Ja, die Fälle sind verschwunden. Es war mitunter zu schwierig den Überblick zu behalten, weil viele Formen sich ähnlich anhörten. Das ist jedenfalls eine Erklärung für diese Entwicklung.«

      »Wieso waren sie sich denn so ähnlich?«, fragte ich ein wenig ungeduldig.

      »Moment noch. In vielen Fällen bestand der Unterschied zwischen zwei Fällen nur aus einem kleinen Laut. Mit der Zeit wurden diese kleinen Unterschiede immer kleiner, bis sie schließlich gar nicht mehr vorhanden waren. Aber da die Fälle ja nicht nur zur Zierde dienten, mussten die Menschen eine andere Möglichkeit finden, um das, was sie sagen wollten, auch ausdrücken zu können.« Anna reichte mir den Zettel mit den altnordischen Mini-Mini-Mikro-Kriminalgeschichten.

      1 Hest drap konung.

      2 Konung drap hest.

      3 Konung drap hest.

      4 Hest drap konung.

      Anna hatte in einigen Wörtern den letzten Buchstaben durchgestrichen. »Siehst du, dass jetzt der erste und der letzte Satz dasselbe bedeuten? Und die beiden in der Mitte auch.«

      »Aber was hat denn nun die Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen zum Verschwinden gebracht? Und was hat das damit zu tun, dass ich Geld von dir leihen wollte?«, langsam hatte ich Annas Kriminalgeschichten satt und wäre lieber losgegangen, um Tom und die anderen zu suchen. Vielleicht spielten sie ja gerade Fußball. Und vielleicht waren Anniken und Karin auch dabei. Anniken ist übrigens eine ziemlich gute Fußballspielerin. Inzwischen begann ich in meiner dicken Jacke zu schwitzen, aber ausziehen wollte ich sie nicht.

      »Ich meinte nicht, was du gesagt hast, sondern wie du es gesagt hast«, war Annas Antwort. »Du hast so schnell gesprochen, dass du die Hälfte aller Laute verschluckt hast. Du hast mich gefragt: ›Hassumanpakroon?‹ Wenn du langsam und deutlich gesprochen hättest, hätte es sich ungefähr so angehört: Hast du mal ein paar Kronen? Was ich damit sagen will: Die Sprache, die wir heute sprechen, ist in vieler Hinsicht eine Schnellfassung, bei der manche Laute verschwunden sind. Altnordisch dagegen ist die langsame Fassung.«

      Ich war nicht ganz sicher, ob ich das richtig verstanden hatte, aber ich war inzwischen auch ziemlich müde vom vielen Zuhören. Als Anna verstummte, drehte Gunnleikr sich zu uns um und begann mit leiser Stimme zu sprechen. Anna sagte nichts. Gunnleikr redete weiter, es hörte sich ziemlich ernst an. Anna gab noch immer keine Antwort, aber jetzt sah sie wütend und traurig aus. Schließlich sagte sie: »Gunnleikr muss jetzt bald wieder nach Hause. Möchtest du ihn vor seinem Aufbruch noch etwas fragen?«

      »Ja«, sagte ich. »Eines wüsste ich wirklich gerne. Kannst du singen?«, fragte ich Gunnleikr, und zwar so langsam, wie ich nur konnte, er sollte doch alles verstehen.

      »Ek kan syngja, já«, antwortete Gunnleikr.

      »Rock?«, fragte ich.

      »Rokkr?«, wiederholte Gunnleikr, Þat er fyrir konur.«

      »Gunnleikr denkt, du redest von einem Spinnrocken, Björn-Oskar, und offenbar glaubt er, das sei nur etwas für Frauen«, lachte Anna, dann erklärte sie mir, was ein Spinnrocken überhaupt war. Ich musste zugeben, dass ich von solchem Wollkram keine Ahnung hatte.

      »So was macht doch heute kein Mensch mehr«, sagte ich zu meiner Verteidigung.

      »Nein, heute spinnen wir unsere Wolle nicht mehr selber. Gunnleikr weiß viele Wörter für Dinge, die wir nicht kennen, weil sie nicht mehr benutzt werden. Und wir wissen viele Wörter, die die Wikinger nicht verstanden hätten, ganz einfach, weil es die Dinge noch nicht gab: Küchenmixer, Pizza, Gangschaltung, Rollo. Und Telefon.«

      Wir schauten zu Gunnleikr hinüber, der wieder den Telefonhörer in der Hand hielt und verwirrt in die Sprechmuschel schaute.

      »Und Rock natürlich«, fügte Anna hinzu und kicherte.

      Helle wurde jetzt auch ein wenig ungeduldig, sie krabbelte auf mich zu und wollte auf meinen Schoß. Ich hörte hinter mir ein Geräusch, und als ich mich umdrehte, glaubte ich ein rotes Glühen zu sehen. Gunnleikr war verschwunden, der Telefonhörer lag noch immer neben dem Telefon. Ich fand, dass es ein klein wenig angebrannt roch. Gustav Mahler kroch unter das Sofa.

      »Was ist passiert?«, fragte ich. »Anna, woher kennst du Gunnleikr?«

      Anna gab keine Antwort, sie beugte sich vor und nahm sich ein Himbeerbonbon aus der riesigen Tüte auf dem Tisch. Wir schwiegen eine Weile. Ich dachte an alles, was ich Gunnleikr gerne gefragt hätte. Ich war so blöd gewesen. Da war mir nun ein waschechter Wikinger über den Weg gelaufen und wir hatten nur über Fälle gesprochen! Und wie um alles in der Welt hatte Anna hier plötzlich einen Wikinger auftauchen lassen? Ich schaute wieder zu ihr hinüber. Nein, es hatte sicher keinen Zweck, sie noch einmal danach zu fragen. Aber ich wollte es herausfinden.

      »Was machst du eigentlich, wenn du nicht auf Helle aufpasst?«, fragte ich sie.

      »Ich studiere«, antwortete Anna mit eifrigem Tonfall. »Ein Fach, das Linguistik heißt.«

      »Das klingt aber nicht sehr spannend«, sagte ich und schaute zu dem dicken grauen Buch hinüber.

      »Ist es aber! Linguistik ist ein anderes Wort für Sprachwissenschaft. Wir studieren unterschiedliche Sprachen. Wir sehen, wie Sprachen aufgebaut sind, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern und noch vieles andere. Was wir hier in der letzten Stunde gemacht haben, war auch Sprachwissenschaft. Und das hat doch Spaß gemacht, oder?«, fragte Anna und wurde wieder ein wenig rot.

      »Ja, das war nicht schlecht«, gab ich zu und fragte mich, ob zur Sprachwissenschaft immer Wikinger gehören, die aussehen wie Rocksänger, aber gar keine sind.

      Als ich endlich zum Kiosk kam, war natürlich kein Mensch mehr da, und auf dem Fußballplatz waren sie auch nicht.

      Buchstäblich!

      Am nächsten Freitag bekamen wir ein Diktat zurück. Wie gesagt, Norwegisch ist nicht gerade mein Lieblingsfach. Aber diesmal hatte ich fast keinen Fehler und war zufrieden. Einen kleinen Patzer hatte ich in der Eile gemacht und zweimal hatte ich Weitsenbrot geschrieben. Statt Weizenbrot. Ich ging zum Pult, wo Jonas die fehlenden Schüler ins Klassenbuch eintrug.

      »Entschuldigung«, sagte ich zu Jonas. »Warum wird Weizen ohne t geschrieben? Wir hören das t doch ganz deutlich.«

      »So ist es eben richtig, Björn-Oskar. Halt dich einfach an die Rechtschreiblisten, Junge«, antwortete Jonas zerstreut und widmete sich wieder dem Klassenbuch.

      »Aber warum ist es richtig so?«

      Jonas sah mich an, kratzte sich den Bart, konnte aber nicht erklären, warum das so war.

      Auf dem Heimweg unterhielten Tom und die anderen sich über englischen Spitzenfußball. Ich hörte nicht richtig zu und zerbrach mir den Kopf, warum wir Radiergummi mit ie schreiben, Tapir und Vampir aber nicht. Und warum Saurier geschrieben wird wie Radier, sich aber nicht darauf reimt. Und warum Weg und weg gleich geschrieben, aber anders ausgesprochen werden. Die beste Antwort, die mir einfiel, war, dass wir in der Schule ja irgendwie beschäftigt werden mussten. Aber wenn auch vieles keinen Sinn ergab, das war mir dann doch zu blöd. Immerhin war Freitag und ich beschloss, ehe ich zum Fußball ging, Anna danach zu fragen.

      Sie saß auf dem Sofa

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