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sie, meine erste Frage beantwortete sie nicht. »Du hörst ja, dass es gar nicht so fremd klingt, aber es gibt doch auch viele Unterschiede. Gunnleikr und ich haben übrigens allerlei zu besprechen. Aber du kannst ja zuhören, vielleicht fallen dir die Unterschiede auf.«

      Ich saß im Schaukelstuhl und versuchte zuzuhören, aber alles kam mir so seltsam vor, dass ich mich gar nicht richtig konzentrieren konnte. Wer war Gunnleikr? Wie hatten er und Anna sich kennen gelernt? Und wie war er in unser Wohnzimmer gekommen? Nach einer Weile ging es ein bisschen besser und ich hörte Anna und Gunnleikr zu und versuchte sie zu verstehen. Die beiden hatten wirklich viel zu besprechen, sie redeten laut und lange und eifrig miteinander. Ab und zu lachten sie, dann sahen sie wieder ernst aus. Einmal schauten die beiden zu mir herüber und machten eine Bemerkung. Schließlich wandte Anna sich an mich: »Na, wie sieht’s aus?«

      »Das war ziemlich schwierig«, sagte ich nur, obwohl ich eigentlich lieber gefragt hätte, woher Anna und Gunnleikr sich kannten. »Besonders viel habe ich nicht verstanden. Ihr habt so seltsame Geräusche gemacht. Manchmal hat es sich angehört wie gelispelt.«

      »Richtig«, sagte Anna. »Wir haben über die Reise hierher gesprochen.«

      »Ja, die ist ja sicher ziemlich schnell gegangen«, warf ich dazwischen, aber Anna redete einfach weiter.

      »Gunnleikr hat erzählt, dass es unterwegs neblig war. Nebel heißt in seiner Sprache poka, das fängt mit einem Lispeln an. Reisen heißt auf Altnordisch ferða, das ist dasselbe Wort wie fahren, und auch hier gibt es einen Buchstaben, den wir heute nicht mehr haben, nämlich das ð, das klingt ein bisschen wie ein gesummtes d.«

      »So wie father im Englischen?« fragte ich, Englisch konnte ich ganz gut.

      »Ja, genau«, sagte Anna.

      »Ich glaube, ihr habt über mich geredet. Ich habe meinen Namen gehört und dann war noch die Rede von einem Bjarnar.«

      »Wir haben eigentlich nur über dich gesprochen«, sagte Anna lächelnd. »Weißt du, im Altnordischen gibt es Fälle oder Kasus. Das bedeutet, dass ein Wort sich verändert, es kommt darauf an, mit welchen anderen Wörtern es in unmittelbarer Nachbarschaft steht. Der erste deiner beiden Namen ist so ein Beispiel. ›Ich heiße Björn‹ klingt ziemlich ähnlich, nämlich: ›Ek heiti Bjørn.‹ Aber wenn Gunnleikr sagen will: ›Anna ging zu Björn‹, dann wird das zu ›Anna gekk til Bjarnar‹. Und noch komischer klingt ›Wir gaben Björn Brot‹, dann heißt du nämlich plötzlich ›Birni‹, nicht wahr, Gunnleikr? Sag bitte mal ›Wir gaben Björn Brot‹.«

      »Vér gáfum Birni brauð«, sagte Gunnleikr.

      »Himmel«, sagte ich, »das klingt ja kompliziert. Wie konnten die Leute denn diese Fälle auseinander halten? Wie kann Gunnleikr sich das alles merken?«

      Anna und Gunnleikr lächelten und Anna sagte: »Tja. Ich muss ja zugeben, dass ich mir ein etwas ausgefallenes Beispiel ausgesucht habe. Die meisten altnordischen Wörter haben sich nicht so sehr verändert wie Bjørn. Aber ich glaube sowieso, dass keine Sprache schwierig ist für die, die sie als Muttersprache gelernt haben. Gunnleikr schüttelt deshalb alle Fälle nur so aus dem Ärmel, nicht wahr, Gunnleikr?«

      Gunnleikr war zum Telefon gegangen und hielt den Hörer in der Hand. Er starrte die Sprechmuschel an, dann legte er den Hörer wieder auf die Gabel und betastete die Leitung. Er blickte zerstreut zu Anna herüber und fragte: »Hvat?«

      Ich war nicht sicher, ob Gunnleikr Annas Frage verstanden hatte. Das wollte ich Anna schon sagen, aber in diesem Moment klingelte das Telefon. Gunnleikr fuhr zusammen und rief: »Háva Valholl!«

      Anna und ich mussten losprusten. Das Telefon klingelte weiter. Und Gunnleikr sagte leise: »Hjalpi mér Óðinn, Þórr ok allar vættir!«

      Anna, die dicht bei ihm stand, nahm ab. »Da fragt ein Tom nach dir, Björn-Oskar«, sagte Anna. Sie hatte ihre Hand über die Sprechmuschel gelegt. Ich schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

      »Nein, der scheint noch nicht hier zu sein«, sprach Anna ins Telefon. »Doch, ich sage ihm Bescheid, wenn er auftaucht.« Sie schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Ich bin die Babysitterin.« Dann legte sie auf.

      »Ich soll dir ausrichten, dass Tom und noch ein paar andere, ich habe mir nicht alle Namen gemerkt, nicht mehr warten wollen und jetzt Fußball spielen gehen.«

      Ich nickte und wollte eigentlich losstürzen, doch Anna redete gleich weiter: »Viele Sprachen haben so ein Kasus-System. Die Finnen haben sogar fünfzehn Fälle. Im Deutschen gibt es vier. Finnisch ist übrigens keine indogermanische Sprache wie Norwegisch oder Deutsch. Andere nichtindogermanische Sprachen, die in Europa gesprochen werden, sind Samisch, Ungarisch und Baskisch. Aber weder Deutsche noch Finnen haben damit Probleme. Aber für Norweger oder Schweden, die nicht an Fälle gewöhnt sind, ist es sehr schwer, eine Sprache wie Finnisch zu lernen. Weißt du übrigens, was Ausländer, die unsere Sprache lernen, daran schwierig finden?«

      »Nein, doch, sicher die Sache mit den Geschlechtern. Ob es der Schaukelstuhl oder die Schaukelstuhl oder das Schaukelstuhl heißt, und so.«

      »Ganz genau, auch die Präpositionen sind für viele ein Problem. Warum heißt es, wir fahren nach Italien, aber in die Schweiz?«

      »So schwierig kann das doch nicht sein!«

      »Nein, da hast du’s ja. Ebenso wenig war es für die Wikinger ein Problem, die verschiedenen Fälle deines Namens auseinander zu halten.«

      »Ich kapiere noch immer nicht, wozu sie diese Fälle gebraucht haben.«

      »Vielleicht verstehst du das besser, wenn ich dir zwei Mini-Mini-Mikro-Kriminalgeschichten erzähle. Sie sind ganz gleich, nur gibt es jedes Mal einen anderen Mörder. Ich erzähle sie zuerst in der heutigen Sprache. Die eine geht so: Kongen drepte hesten – König tötete Pferd. Und die andere: Hesten drepte kongen – Pferd tötete König. Die Reihenfolge der Wörter zeigt, wer wen tötet. Richtig?«

      »Klar doch«, sagte ich und dachte im Stillen, dass ein Fernsehkrimi ja doch spannender wäre. Fußball übrigens auch. Tom und die anderen standen jetzt garantiert nicht mehr beim Kiosk. Sie spielten Fußball. Vielleicht war Anniken auch dabei.

      »Aber im Altnordischen war die Reihenfolge nicht so wichtig, da ist nämlich auf jeden Fall klar, wer der Mörder ist«, erzählte Anna eifrig weiter, während sie ihre Mini-Mini-Mikro-Kriminalgeschichten auf Altnordisch aufschrieb. Gunnleikr warf seine langen Haare zurück und schien sich zu langweilen. Er bückte sich und redete leise mit Helle. Helle nahm das Rennauto aus dem Mund und gab es Gunnleikr, der es sich ganz genau ansah.

      1 Hestr drap konung.

      2 Konung drap hestr.

      3 Konung drap hest.

      4 Hest drap konungr.

      »Drap?«, fragte ich, nachdem ich den Zettel gelesen hatte. »Auf Altnordisch hieß es also drap und nicht wie im Norwegischen drepte?«

      »Ja«, sagte Anna, »richtig, die Sprache entwickelt sich weiter. In einigen Jahren werden wir wahrscheinlich auch les und ess sagen statt lies und iss.«

      »Ja, ich sage immer ›jeg skjærte brødet‹, ich habe das Brot geschneidet, und Tom und die anderen tun das auch. Aber Jonas, unser Lehrer, lässt uns das nicht schreiben. Und meine Mutter ärgert sich sogar, wenn ich es sage. Jonas sagt übrigens auch immer, wir sollen nicht ›ich und Tom‹ schreiben, das sei unhöflich. Er sagt, es heiße ›Tom und ich‹.«

      Anna lächelte kurz. »Gefällt dir der Norwegischunterricht?«, fragte sie.

      Ich nickte und sagte: »Haben wir jetzt eigentlich vier Mini-Mini-Mikro-Geschichten?«

      »Nein, wir haben immer noch zwei. Die beiden ersten Sätze bedeuten dasselbe, nämlich: Das Pferd tötete den König. Die beiden anderen bedeuten: Der König tötete das Pferd. Wir sehen an den Wörtern, wer wen umgebracht hat.«

      »Das sind also die Fälle?«, fragte ich.

      »Genau.

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