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Brogli stellte die Thermoskanne vor sich auf den Boden und nahm die Kappe ab. Seine grauen, sich lichtenden Haare standen wirr vom Kopf ab, aber er bemerkte es nicht und holte sein Notizbuch aus der Jackeninnentasche. Er schlug es auf und holte einen Stift hervor.

      «Wir haben Sie in dem ganzen Trubel vergessen. Tut mir leid.» Das klang zerknirscht. Eine weitere Eigenschaft, die sie bisher ebenfalls nicht bei ihm beobachtet hatte. «Können Sie bitte berichten, wie Sie die Leiche gefunden haben?» Das war der Tonfall, mit dem er normalerweise mit ihr sprach. Andrina war augenblicklich auf der Hut und wappnete sich für das, was folgen würde.

      «Nicht ich habe sie gefunden. Ich meine, im eigentlichen Sinne.» Andrina berichtete, wie sie beschlossen hatten, trotz des scheusslichen Wetters einen Ausflug zu unternehmen, und wie ihnen die Frau entgegengerannt war.

      «Kennen Sie die Frau?»

      «Nein. Ich bin ihr bisher nie begegnet.»

      «Und die Leiche?»

      «Ich habe sie, ehrlich gesagt, nicht gesehen.»

      Brogli hob seine Augenbrauen.

      «Als sie uns zu der Baute geführt hat, ist nur Enrico reingegangen. Von meinem Standpunkt aus konnte ich nichts in der Hütte erkennen.»

      «Hat Herr Bianchi Ihnen etwas über die Person gesagt?»

      «Er sei tot, und wir müssten die Polizei verständigen.»

      Broglis Stift huschte über das Papier. Andrina hatte das Gefühl, er notiere jedes einzelne Wort, das sie sagte.

      «Wer von Ihnen hat den Notruf getätigt?»

      «Enrico. Im Anschluss bat er mich, zum Parkplatz zu gehen und mich um die Frau zu kümmern.»

      «Die Frau? Hat sie Ihnen nicht ihren Namen genannt?»

      «Nein. Sie stand unter Schock und hat kein Wort gesprochen, nachdem Enrico uns gebeten hatte, zum Schloss zu gehen.»

      «Warum blieb Herr Bianchi zurück?», fragte Brogli.

      «Er wollte, dass niemand anderer in das Haus ging.»

      Hatte Enrico damit einen Fehler gemacht? Hoffentlich nahm niemand an, er könne etwas am Tatort verändert haben. Nach allem, was in der Vergangenheit vorgefallen war, konnte man das Verhältnis zwischen ihm und Marcos Team als schlecht bezeichnen. Alles beruhte auf gegenseitigem Misstrauen. Ihr war es nicht recht gewesen, als er beschlossen hatte, zurückzubleiben. Sie sah ihn vor sich, wie er sich gegen einen Baum gegenüber dem Eingang der Pfahlbautenrekonstruktion gelehnt und ihnen nachgeschaut hatte.

      Brogli neigte den Kopf. Diese Geste war wie eine Aufforderung, weiterzusprechen.

      «Damit keine weiteren Spuren vernichtet werden, hat er gesagt», fuhr Andrina fort und war sich bewusst, wie unbeholfen und defensiv das klang, und ärgerte sich darüber.

      «Das hat er bereits selber gemacht.» Ein Grollen mischte sich in seine Stimme, und Andrina fröstelte stärker, als sie es ohnehin tat.

      «Was?»

      «Den Tatort verändert. Er hat den Toten bewegt.»

      «Enrico dachte, der Mann sei verletzt, und wollte Erste Hilfe leisten.»

      «Natürlich.» Ein kurzes Lächeln umspielte Broglis Mund. Ihm konnte die Aggressivität, die sich in Andrinas Stimme mischte, nicht entgangen sein.

      «Hat Herr Bianchi Veränderungen am Tatort vorgenommen? Ich meine damit, hat er was mitgenommen?»

      «Warum sollte er? Er hat geschaut, ob der Mann lebt. Nicht mehr und nicht weniger. Ob oder wie stark er dabei seine Lage verändert hat, weiss ich nicht. Bevor Sie fragen, er hat bestimmt kein zweites Mal das Haus betreten, bis Sie und Ihre Kollegen eingetroffen waren.»

      Hoffentlich war das so, dachte Andrina. Hoffentlich hatte Enrico sich kein zweites Mal vergewissert, ob die Person tot war oder lebte. Sie wollte sich nicht ausmalen, mit welchem Ärger er zu rechnen hatte, falls er sich dem Toten ein weiteres Mal genähert hatte.

      Sie sah sein versteinertes Gesicht vor sich, als er gemeinsam mit Marco Feller und Wagner auf den Platz vor dem Schloss gekommen war. Die Beamten hatten ihn wie eine Eskorte begleitet. Als sie den Parkplatz betreten hatten, hatte keiner der Männer gesprochen. Am liebsten wäre Andrina zu ihm geeilt, aber er hatte einen Blick in ihre Richtung geworfen und sie mit den Augen beschworen, dort zu bleiben, wo sie war. Wiederholt hatte sie sich gefragt, warum. Was war vorgefallen?

      Es war Andrina nicht recht, dass Marco hier war. Er sollte sich wegen Befangenheit zurückhalten, spätestens nachdem er realisiert hatte, wer den Toten gefunden hatte. Es irritierte Andrina, dass er hier war und blieb. Was wollte er damit bezwecken?

      Andrina dachte an den September zurück. Sie hatte Marco definitiv klargemacht, es gebe kein Zurück und ihre Beziehung sei definitiv vorbei. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Lass das. Konzentriere dich lieber.

      «Wissen Sie, ob die Frau, die die Leiche gefunden hat, Veränderungen am Tatort vorgenommen hat?», fragte Brogli.

      «Keine Ahnung, ob sie im Haus war.» Halt, das stimmte so nicht. Andrina erinnerte sich an das Gestammel der Frau, ihr Hund sei in dem Haus verschwunden. Brogli bemerkte ihr Zögern.

      «Sie hat gesagt, ihr Hund sei fortgelaufen, und sie musste in das Haus, um ihn zu holen.»

      In Broglis Gesicht arbeitete es. Die Missbilligung war deutlich, aber er hielt sich zu Andrinas Erleichterung mit Schimpftiraden zurück.

      «Herr Bianchi hat nichts über den Zustand des Toten gesagt?», fuhr er fort.

      Was sollte das heissen? War die Leiche etwa übel zugerichtet? Durch wen? Durch den Mörder oder Tiere? Wie lange lag die Leiche überhaupt dort? Allein die Vorstellung reichte aus, dass Andrina übel wurde. Sie schaffte es nur, den Kopf zu schütteln.

      «Das reicht fürs Erste.» Er deutete auf den Becher in Andrinas Hand. «Möchten Sie noch Tee?»

      Obwohl ihr nach wie vor kalt war, lehnte sie ab. Sie würde bestimmt nichts mehr herunterbekommen. Brogli stieg aus. Andrinas Erleichterung darüber verpuffte, als sie ihn auf Wagner und Enrico zugehen sah und Marco sich zu ihnen gesellte.

      ***

      Andrina liess sich auf das Wohnzimmersofa fallen und beobachtete, wie Enrico Holz in den Ofen stapelte und es anzündete. Er schloss die Glastür und schaute zu, wie die Flammen zu züngeln begannen. Es kam Andrina vor, als wolle er ein Gespräch möglichst weit hinausschieben.

      Auf der Heimfahrt hatten sie fast nicht miteinander gesprochen. Auch jetzt war kaum ein Wort gefallen. Andrina wagte nicht, das Schweigen zu brechen. Sie dachte an Enricos starres Gesicht, als er endlich von den Befragungen entlassen und auf sie zugekommen war. Sie waren in den Wagen gestiegen und heimgefahren.

      Andrina brauchte nicht zu fragen, was der Grund für seine Einsilbigkeit war. Deutlich sah sie vor sich, wie Marco auf Enrico eingeredet hatte. Nettigkeiten waren das bestimmt nicht gewesen. An Enricos Stelle würde das bei ihr genauso für Verstimmung sorgen. Sie hatte ausserdem Angst, über das zu sprechen, was am Hallwilersee vorgefallen war.

      Enrico stand auf und kam zum Sofa. Sein Gesicht war fahl. Die Blässe wurde durch seine schwarzen Haare und die dunklen Augen betont. Er setzte sich neben Andrina.

      «Ich glaube, ich werde nie mehr warm», brach er das Schweigen. Seine Stimme klang neutral.

      «Ich bin völlig durchgefroren.»

      «Dabei hast du eine kleine Wärmflasche im Bauch.»

      Es stimmte, seit sie schwanger war, fror Andrina nicht mehr so stark, wie sie es sonst tat. Heute war das aber nicht so. Andrina legte die Hand auf den Bauch.

      «Hat Brogli sich anständig dir gegenüber benommen?» Seltsame Frage. Versuchte Enrico so den Einstieg zu einem Gespräch über den Toten?

      «Ja, eigentlich schon.»

      Sein Gesicht wurde ausdruckslos.

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