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Aufrecken, wie über Angeklagte vor der Urteilsverkündigung. Einige wandten, beleidigt durch das laute Auffahren, mißbilligend ihr Gesicht gegen Andreas. Der aber achtete nicht auf sie, sondern bewegte sich mit langsamen, festen Schritten gegen den Eingang zum Sprechzimmer. Jetzt, da er auf seinen Füßen stand, war er der Gewalt dieser zerschundenen Leben entrückt, und die Gewißheit beseelte ihn, daß jetzt nur noch der Doktor zu überwinden sei. Dann war ihm sein Kind und mit ihm alles gerettet. Da hieß es nur auf der Hut sein, um keine Geste, keine Miene, nicht die leise Beschattung des Blickes zu verlieren, mit der sich Ärzte vor den Patienten heimlich ihre Überzeugung gestehen. Professor Flöreck öffnete die Tür, um damit das Zeichen zum Beginn der Ordination zu geben, und der Sintlinger schritt, ohne sich um die Berechtigung dazu Gedanken zu machen, über die Schwelle. Das Ordnungsfräulein wollte den Bauern zurückhalten, weil noch zwei Patienten vorgemerkt waren. Andreas wandte sich nur mit drohendem Gesicht um, hörte an ihren erklärenden Worten vorüber, sagte über die Achsel: »Schon gut!« und schloß stark die Tür hinter sich, ohne von dem Gelächter und den Rufen des Unwillens im Wartezimmer Notiz zu nehmen. Doktor Flöreck überging mit schonendem Lächeln diese ungewohnte Szene, ließ seinen Blick verwundert von der gütig stillen Frau zu dem flackernd dunklen Mann gehen und traf derweil alle Vorbereitungen zu der Untersuchung. Der Sintlinger rückte mit seinem Stuhl an die Wand und verfolgte mit den schwarzen Augen, die wie die Mündungen zweier Flintenläufe in dem überwachten Gesicht standen, alle Vorgänge. Sein gewalttätiger Wille stellte die Aufmerksamkeit so ausschließlich auf den entscheidenden Moment ein, daß die informierenden Fragen des Arztes über das Alter der kleinen Patientin, mögliche Unfälle, mutmaßlichen Eintritt des Sehunvermögens und mehrere andere fast wie ein belangloses Geräusch fern von ihm hinhuschten. Plötzlich änderte sich die Klangfarbe der Stimme des Doktors. Jede Strenge wich aus ihr, das ohnehin weiche Organ wurde noch klingender. Die Worte hörten sich wie ein heiteres Spiel an. So redete er zu der kleinen Helene, und schon nach wenigen Augenblicken war sie von der sanften Gewalt des Mannes so hingenommen, daß jede Scheu von ihr wich. Sie ließ sich bei den Händchen fassen, duldete glücklich, daß ihr der Professor das Haar und die Wangen streichelte, und war endlich so weit, wie sie der kluge Arzt haben wollte. Sie fühlte die Berührung der fremden Hände wie eigene Gebärden und kam seinen Absichten wie eigenen Wünschen entgegen. Ohne Laut ertrug sie jeden Druck auf die Augen, bewegte sie nach seinem Gebot, schloß, öffnete sie und hielt in froher Erwartung still, während er mit dem Spiegel alle Winkel der geheimnisvollen Klarheit ihrer verschlossenen Augen durchsuchte. Nirgend entdeckte er eine Verletzung, nirgend eine krankhafte Veränderung. Die Iris war ungetrübt, die Linse hing wie ein makelloser Tropfen Tau vor den göttlichen Finsternissen der Netzhaut. Selbst die Anpassungsfähigkeit der Pupille war in beschränktem Maße vorhanden.

      Der Sintlinger saß wie zum Stoß vorgeneigt, hatte das Sitzbrett des Stuhls mit beiden Händen krampfhaft gepackt und verfolgte so drohenden Blickes alle Bewegungen des Arztes, als mache er sich bereit, auf ihn zu stürzen. Er wußte nicht, wo er war. Alles, was er sah, ereignete sich hinter grauen Schleiern. Da bemerkte er endlich, daß der Professor sich aufrichtete, gedankenvollen Schrittes an den Schreibtisch trat, sinnend umhergriff und dann, wie er es gestern getan hatte, ans Fenster ging und auf die Straße starrte.

      »Gut, jetzt kommt es«, dachte der Sintlinger und war, ohne zu wissen, was er tat, aufgesprungen.

      »Herr Doktor«, stotterte er, daß es klang, als wühle er mit seiner Zunge in Geröll, das den Mund erfüllte.

      Der Professor, an alle Formen menschlicher Verzweiflung gewöhnt, drehte sich um und sah, die Finger der Rechten am Kinn, den Sintlinger an. Der bebte wie ein gespanntes Seil im Sturm. Doch der Doktor kehrte sich nicht daran.

      Er sprach mit milder Stimme von den Grenzen menschlichen Wissens, den Geheimnissen des Menschenleibes, den unerschlossenen Wundern und Launen der Natur und bekannte, daß ihm ein Fall wie dieser, wo bei völliger Intaktheit des äußeren und inneren Auges das Sehvermögen sich auf eine gewisse Lichtempfindlichkeit beschränke, noch nie vorgekommen sei. Alles, was er tun könne, bestehe in dem Rat, in Geduld zu warten, daß die Natur den Schleier, den sie auf so verborgenem Wege vor dieses Kind gehangen, geheimnisvoll wieder wegziehe.

      Dem Sintlinger war es, als höre er himmlische Stimmen zu sich sprechen. Um sich zu halten, daß er nicht hinlaufe und dem Mann vor die Füße falle, schloß er die Hände wie Zangen ineinander, lächelte wie irr und wußte nicht, daß ihm Tränen über die Wangen liefen.

      Der Arzt meinte die Äußerungen tiefster Verzweiflung zu sehen, trat an den Sintlinger heran, legte seine Hand auf dessen Achsel und sprach ihm noch weiter Fassung und Trost zu. Der Bauer hörte vor innerem Jubel nicht, was der Doktor sprach, und nickte zu allem nur mechanisch, auch als der Doktor bat, seinem Assistenten eine kurze Inaugenscheinnahme dieses phänomenalen Falles zu gestatten.

      Kaum war aber der Professor hinter der nächsten Tür verschwunden, so raffte Andreas schnell eine Menge Goldstücke aus dem Beutel, warf sie auf den Schreibtisch und zog seine nutzlos widerstrebende Frau ans dem Zimmer. Lachend sprang er die Treppe hinunter und nahm an der Tür seinem etwas betreten nachfolgenden Weibe die kleine Helene vom Arm. Dann trat er wie im Triumph auf die Straße. Von oben rief ihm der Arzt irgend etwas nach, und auch der Kopf seines Gehilfen erschien am Fenster.

      Der Sintlinger hörte wohl seinen Namen rufen, kehrte sich aber nicht einmal um, lüftete bloß den Hut und strebte, wie trunken vor großem Glück, seinem Absteigequartier zu.

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