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er doch nur von seinem leidenschaftlichen Wesen fortgerissen, das eben alle Handlungen so leicht ins Maßlose trieb. Doch haftete ihm keine Spur krankhafter Empfindsamkeit, ungesunder Schwärmerei oder pietistischer Frömmelei an. Offenbar lenkte ihn nichts als die Ergriffenheit eines Menschen, der mit seiner Güte Ernst macht. Sein Weib aber brauchte sich gar nicht zu ändern. Sie ging leise wie immer auf fernen, lichten Wegen durchs Leben, wohl manchmal mit einer leichten Wolke um die Stirn, doch gelassen und tüchtig, besonnen und sanft. Und kehrte ihr Mann von einem Geschäft seiner Nächstenliebe gar zu jagend heim, daß ihm sein Feuer das Gesicht mit fast hektisch roten Flecken von innen her betupfte, dann strich sie ihm die Haare über die Stirn hinauf wie in den Tagen der Entgleisungen durch den Rausch, als sagte sie wie damals: Laß nur gut sein, Andreas, es gelingt dir schon noch, und lächelte ermunternd und glättend seinen Überschwang wieder ins sichere Gleis.

      In jener Zeit war es auch, daß irgend jemand die Sintlingersche Bauernburg auf dem Hügel den Heiligenhof nannte. Mag dieser Name immerhin ursprünglich einer scheelen Seele von der Spottlust eingegeben sein und deswegen im Anfang allein dem Mund der Leute schmackhaft geworden sein, gemach bedienten sich seiner auch Ernste und Bedachtsame, vor allem, als man erfuhr, warum sich das Leben des Hofes in solch ernste Schönheit gewendet hatte. Denn seit das blinde Mädchen auf die Füße gekommen war, konnten der Bauer und die Bäuerin ihren Zustand nicht mehr verheimlichen. Nun nahm es jeder wahr, daß das arme Kind, in tiefe Nacht gesperrt, umhertappte. Das Herz der ganzen Gegend erschrak bei dieser Nachricht, und alle Eltern nahmen die Gesundheit ihrer Kinder nicht mehr achtlos als Notwendigkeit hin, sondern kamen sich unverdient beschenkt vor. Nur Nichtswürdige besaßen den bösen Mut, in dem Schicksal des Kindes die Strafe für die vielen Verirrungen des Geschlechts und das tolle Treiben Andreas Sintlingers zu sehen. Die meisten waren von der seltsamen Kraft ergriffen, mit der die beiden das Unglück ertrugen und weise für ihr Leben ausnützten. Es ergab sich von selbst, daß unter den vielen Bewegten genug Tätige sich fanden, die gedrungen wurden, nach dem Heiligenhofe ungebeten Rat und Hilfe zu tragen. Und wie es die Art des Volkes, vor allem der Landleute, ist, verfielen sie nicht auf den naheliegenden Gedanken, den Sintlingerschen Eheleuten zur Kunst eines Arztes zu raten, sondern bestürmten sie mit dem Angebot von allerhand verborgenen Heilweisen. Da sollte das weiße Häutchen, das unter der harten Schale des Habichteies sitzt, dem Mädchen sicher den Blick ins Licht öffnen, weil dieser Vogel der einzige ist, der, ohne zu erblinden, sein ganzes Leben so nahe der Sonne verweilen kann. Kluge Frauen rückten mit siebenerlei Kräutern an, sprachen uralte Gebete über das Kind, beschworen es unter seltsamen Gesten und verbannten das Übel in den abnehmenden Mond, den Wirbelwind oder das fließende Wasser, damit es nicht mehr zurückfinde. Selbst ein Pfarrer aus einem weitab liegenden armen Heidedorfe schickte ein Fläschchen seines unfehlbar wirkenden Augenheilwassers. Manch einen trieb auch die bloße Neugier auf den Sintlingerhof. Diese Übereifrigen schwemmten sich in einer Flut törichter Redeweisen durch die Stuben, begafften alles mit beißenden Augen und wichen nicht eher von der Stelle, bis sie sich aus dem Kaffeekruge der Bäuerin den Leib tüchtig durchwärmt hatten. Anfangs tat die ehrliche Teilnahme so vieler würdiger Menschen dem Vater und der Mutter in der Seele wohl. Sie genossen mit heimlichem Stolz das Erstaunen der Fremden über das engelreine Gesicht Helenens, über das Rätsel der klaren und doch gebundenen Augen und das glockenhelle Stimmchen des Kindes, das von weiterher als aus den Fernen der Brust zu tönen schien. Von ihrem verschwiegenen Glauben an eine möglichst hohe Berufung durch das Wunder, das an ihrem Kinde geschehen war, sagten sie nichts. Mit gebührendem Dank nahmen sie alle Mittel entgegen und stellten dann heimlich die Mixturen ungebraucht zur Seite. Als aber der Schwarm der Eckensteher des Mitleids über die Schwelle strömte, verbargen sie das Kind und fertigten die leeren Zungenschläger immer kürzer ab.

      In jene Zeit fiel der Besuch des alten Klim aus Brederode. Den gebrechlichen Mann hatte der tiefe Kummer über das abermalige große Unglück seiner vielgeprüften Tochter von dem Krankenlager getrieben. In Betten gepackt, fuhr er durch den rauhen Vorfrühlingstag auf den Heiligenhof. Da überzeugte er sich denn, daß das Gerücht von der Blindheit seines Enkelkindes leider grause Wahrheit sei. Zugleich spürte er aus den Worten und mehr noch aus dem veränderten Wesen seines Schwiegersohnes ein ihm völlig unbegreifliches Genügen in dem Geschick. Trotz aller behutsamen, von weither kreisenden Fragen brachte er aus Andreas nichts als eine Reihe fatalistischer Floskeln heraus, unter denen dieser den wahren Grund seiner Hingabe an die schwere Fügung verbarg. In Wahrheit fürchtete der Sintlinger instinktiv, den Zauber zu zerbrechen, durch den er aus den dunkeln Strudeln seines Blutes in eine hohe, außergewöhnliche Welt gehoben worden war. Darum schwieg er beharrlich in allerhand ausweichenden Worten, und als der Greis, wie von einem hellen Blitz in seine fast todesklare Seele getroffen,, endlich mit der Frage auf ihn eindrang, ob denn das Leben des unschuldigen Kindes etwa nur der Besen sein sollte, mit dem er seine Stuben rein halte, wurde der Sintlinger blaß und verließ bebend die Stube. Johanna verstummte auch und sah durch ratlose Tränen ihren Vater an, der über so viel unchristliche Verirrung außer sich geriet, weil er wahrnahm, daß auch seine Tochter ergeben an dieser Untat teilhatte. »Ich will heim«, sagte er zum Schluß mit abgeschlagenem Atem, richtete sich mühsam an seinem Stock auf, sah noch einmal entsetzt umher und verließ, jede Unterstützung ablehnend, das Haus.

      Doch der Zorn des Greises und seine Frage, die wie ein Stoß gegen seine Brust gefahren war, stürzten den Sintlinger nicht tiefer in unentwirrbare Zweifel und Unruhe. Nicht lange nach dem Weggange des Alten trat er in die Stube, nahm seiner Frau das Kind vom Arme, schwang es im Licht des Fensters hoch über sich und sah ihm von unten lange ins Gesicht. Unter einem herzhaften Kuß stellte er Helene dann auf die Diele und blickte ihr nach, wie sie mit zierlich-schwebenden Schrittchen an der Hand Johannas dahinging.

      »Wie?« rief er plötzlich in seiner alten Art, zerhackt und laut. »Wie? Soll ich mich empören, daß das Kind so ist, wie es ist? Wenn es keinen Sinn hat, warum gab es mir Gott so? Eine schöne Art Glauben und steinerne Augen! Nicht? Da war am Ende alles, was in den Nächten über mich gekommen ist, auch nur ein so glänzender, spinnwebiger Zufall. Nein, nein!« Er setzte mit einem Schlag beteuernd die Faust auf seine Brust und ging hohnlachend an die Arbeit.

      In diesem Glauben verharrte er, auch als der Hemsterhuser Pfarrer Ardelt, wohl vom alten Klim geschoben, auf dem Heiligenhofe unter dem Vorwand erschien, den Sintlinger für eine Beisteuer zur Ausmalung des alten Kirchleins zu interessieren. Andreas und seine Frau saßen und hörten aufmerksam den beweglichen Worten zu, mit denen der Priester die vielen verborgenen Mängel des Gotteshauses schilderte. Auch die versteckten Vorwürfe der Unkirchlichkeit nahm der Bauer gleichmütig hin und trommelte als Antwort nur leicht mit den Fingern auf der Tischplatte. Als sich aber der Pfarrer im Anschluß daran geschickt dem Unglück zuwandte, das über das Ehepaar gekommen war, und bald in die Rolle eines Bußpredigers verfiel, riß Sintlinger die Hand vom Tische. In seinem Auge flackte es auf. Bleichen Gesichts und steif neigte er sich vor, als wolle er etwas erwidern, faßte sich aber, stand lächelnd auf und trug des Pfarrers Hut und Stock auf den Flur. Dann erschien eine Magd und meldete, daß die Sachen des geistlichen Herrn schon draußen seien. Am andern Tage aber schickte der Sintlinger einen ansehnlichen Beitrag in den Pfarrhof. Niemandes Atem, keines andern Menschen Gedanken als die seines Weibes, und die eigentlich auch nur in einer gewissen Ferne, duldete Andreas auf dem Wege, den er sich selber zum Verwundern beschritten hatte.

      Nicht lange darauf rückte es ihm doch die Füße weg.

      An einem Abende kam er mit einem Fuder Grünfutter vom Felde heim und hörte über den Hof hin die Mägde davon sprechen, daß der Hemsterhuser Narr dagewesen sei. Er habe sich in die Stube zu dem schlafenden Kinde geschlichen, ein rotes Läppchen aus der Tasche gezogen und es unter Tränen und Verwünschungen über den geschlossenen Augen des Kindes in kleine Fetzen zerrissen. Eine Magd hatte durch das offene Fenster vom Garten her den Vorgang angesehen, aber aus Furcht vor dem unheimlichen Menschen nicht einzuschreiten gewagt. Als die Bäuerin in der Stube erschienen sei, habe sie den Glöckchenhorcher in einer Ecke lehnend gefunden, das Gesicht von verzweifeltem Schmerz entstellt, die Augen starr auf das Kind geheftet. Auf ihren Anruf sei es gewesen, als tauche er langsam aus einem Traume auf. Doch kaum habe er die Bäuerin erkannt, so sei sein Weinen und Wehklagen von neuem angegangen. Nur durch gütliches Zureden sei es gelungen, ihn vom Hofe zu bringen, und nun sitze er drunten am Grenzwege und höre nicht auf, fortwährend die roten Zeugfetzen einzugraben und herauszuscharren.

      Der

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