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bezeichnete, war zu ihr bereits auf Distanz gegangen: ausgestattet mit einem feinen Gespür für alles, was nach Kirche und Klöstern roch, hatte er seit langem die Überzeugung gewonnen, daß es besser sei, sich von jedem Aufruhr fernzuhalten, der von Weihrauch umwölkt wird.

      Aber »du kannst ihn drehen, wie du willst, es bleibt doch immer derselbe Kürbis«, sagt man bei uns in Sizilien. Und tatsächlich antwortet die Regierung mit dem einzigen Wort, das sie seit der Einigung für jeden Aufruhr im Süden anwendet, sei er gerechtfertigt oder nicht: Unterdrückung.

      So kommen, wenn auch mit einiger Verspätung, die Truppen, um die Revolte zu unterdrücken. Zwar waren sie mit vernünftigen Waffen ausgestattet, das schon, aber ohne es zu wissen, schleppten sie eine Waffe mit sich, die furchtbarer war als Gewehre und Kanonen, eine schreckliche, eine unsichtbare Waffe.

      Mit den Soldaten ging auf der Insel die Cholera an Land, die ihre Ansteckungsherde bereits in anderen Teilen Italiens hatte.

      Bis zu diesem Augenblick war man in der Lage gewesen, durch strenge Hafenkontrollen die Übertragungsgefahr fernzuhalten, doch militärische Notwendigkeiten machten diese Kontrollen weniger unerbittlich. Tatsache ist, daß die Cholera im Gleichschritt mit den Truppen vorwärtsdrängte, und auf der Insel fand sie Gelegenheit, sich spannen- und ellenweise auszubreiten: von Oktober 1866 bis August 1867 fanden ungefähr fünfundfünfzigtausend Menschen den Tod.

      Dieses Zusammentreffen inspirierte den einen und anderen genialen antiunitarischen Aktivisten auf goebbelsche Weise. Man erfand das gleich für bare Münze gehaltene Gerücht, die Regierung selbst habe diese Ansteckung verbreitet, und zwar in der eindeutigen Absicht, die Sizilianer umzubringen, die den hohen Herren mit ihren Revolten und Forderungen gehörig auf den Geist gingen, und auch, weil, wenn die Erbschaftssteuer nur ein ganz klein wenig angehoben würde, diese Herren mit all diesen Toten einen schönen Batzen Steuergelder einnehmen könnten.

      Ein Gutteil der Bevölkerung, die seit der Einigung eine gehörige Unzufriedenheit mit sich herumschleppte, glaubte an diese Version so fest, daß Nino Martoglio sich verpflichtet fühlte, eine zauberhafte Dialektkomödie zu schreiben, ‘U Contra (Das Gegengift), mit einer genialen erfundenen Figur, Don Cosimo Ballaccheri, der hingegen erklärte, warum die Regierung überhaupt nichts damit zu tun habe und seine eigene schrullige Theorie über diese Angelegenheit darlegte.

      Die Reichen, die Wohlhabenden, die Adeligen verschwanden innerhalb von so kurzer Zeit von der Insel, wie es einundfünfzig Jahre später nicht einmal die Revolution in Rußland fertig gebracht hatte: einige von ihnen landeten gar in London oder in Konstantinopel. Wer nicht das nötige Kleingeld hatte, um sich davonzumachen, mußte gezwungenermaßen zurückbleiben und sich durch Dörfer und Städte schlagen, unter der ständigen Bedrohung einer Ansteckung.

      Wer Bekannte hatte, brachte Frau und Kinder in Häuser von Bauern oder Freunden auf dem Land. Wer dagegen das Glück hatte, ein Landhaus sein eigen zu nennen, war dort verhältnismäßig sicher.

      EIN ORT

      An der Südküste Siziliens gibt es eine Ortschaft, die heißt Porto Empedocle. Bevor sie eine eigenständige Gemeinde wurde, war sie ein Ortsteil von Girgenti (Agrigent): die sogenannte »Borgata Molo« (Mole-Vorstadt) mit annähernd dreitausend Einwohnern, die allesamt von den blühenden, lautstarken Handelsgeschäften im Hafen mit Schwefel, Salz, Weizen und anderem Getreide lebten, Erzeugnissen, die aus dem Inneren der Insel kamen.

      »Unterort Molo«, so nannten ihn die Girgentaner, die die Autonomiebestrebungen dieses kleinen Ortsteils belächelten. Welcher, um es ganz offen zu sagen, sich von Girgenti einigermaßen unterschied, denn Girgenti hatte über sechzehntausend Einwohner, davon 237 Priester, 211 Mönche und 203 Nonnen. Die »Borgata Molo« hatte lediglich zwei Priester, keinen Mönch und keine Nonne.

      Das letzte Wort in diesem ständigen Streit zwischen »Girgentanern« und »Marinisern« (das heißt den Bewohnern der Meeresortschaft) sprach Ferdinand II. in Person, welcher, per Königlichem Dekret, erlassen auf Ischia am 18. August 1852, festlegte, daß »mit dem 1sten Januar 1853 die Borgata del Molo von Girgenti von der Gemeindeverwaltung dieser Stadt losgelöst und ein eigenständiges Gemeinwesen mit eigener und unabhängiger Verwaltung bilden wird«. Dadurch wurde es notwendig, eine Liste der wählbaren Männer aufzustellen. Diese mußten mindestens zwei unverzichtbare Erfordernisse erfüllen: sie mußten lesen und schreiben können und in der Liste der Steuerzahler aufgeführt sein. Auf dreitausend Einwohner kamen siebzig Namen zusammen.

      Und so entstand Porto Empedocle, zu Ehren des Philosophen und Arztes Empedokles, des Ruhms und des Stolzes von Akragas, wie Girgenti damals, in der griechischen Antike, genannt wurde.

      An einer unvorteilhaften Stelle in die Welt zu treten, ist kein ausschließliches Vorrecht der Menschen. Auch ein Ortsteil entsteht nicht wie oder wo er es gerne hätte, sondern dort, wo aus dem einen oder anderen natürlichen Bedürfnis das Leben es verlangt. Und wenn zu viele Menschen, von derlei Bedürfnissen gezwungen, sich an dieser Stelle zusammenfinden und zu viele dort geboren werden und die Stelle zu eng ist, muß ein Ortsteil mit vielen Nachteilen entstehen. Wenn Nisia sich ausdehnen wollte, mußte es in die Höhe klettern, ein Haus über dem anderen, an den Mergelhängen des angrenzenden Hochplateaus, das, nur wenig hinter dem Ortskern, bedrohlich zum Meer hin abfällt. Frei und uneingeschränkt hätte der Ortsteil sich auf diesem weiten luftigen Hochplateau ausdehnen können; aber damit hätte er sich auch vom Meeresufer entfernt. Vielleicht würde man ja eines Tages ein Haus, notgedrungen dort oben hingebaut, unter dem Hut seiner Dachziegel und eingehüllt in den Schal seines Verputzes wie eine Ente zum Ufer hinunterwatscheln sehen. Denn da unten, am Ufer, da pulsierte das Leben.

      So erzählt Pirandello in einer Novelle das Entstehen von Porto Empedocle, das er hier Nisia nennt. Und wirklich pulsierte hier das Leben, wenn der kleine Ort, wie man im Dizionario topografico della Sicilia von 1859 nachlesen kann, eine große Schwefelraffinerie und einen Telegrafen besaß, der Sitz zahlreicher ausländischer Konsulate war, sehr fortschrittlich wirkte und in ständiger Ausdehnung begriffen war.

      Die Grenzlinie zwischen beiden Gemeinden längs der Küstenstraße wurde in Höhe der Mündung eines seit Urzeiten ausgetrockneten Flußbetts festgelegt, das ein Gemeindegebiet in zwei Teile zertrennte, das »‘u Càvusu« oder auch »‘u Càusu« hieß und so dicht von Bäumen bewachsen war, daß man denken konnte, es sei ein Wald.

      Nun bedeutet im sizilianischen Dialekt sowohl »càvusu« als auch »càusu« das gleiche, nämlich: Hose. Und tatsächlich mußte diese durch das ausgetrocknete, ausgedörrte Flußbett in zwei Teile gespaltene Hochebene auf jemanden, der sich vom Meer her näherte, wie eine Hose gewirkt haben.

      Und nun gehörte eine Hälfte dieses Càvusu zur neuen Gemeinde von Porto Empedocle und die andere zur Gemeinde von Girgenti.

      Eines schönen Tages sagte sich ein Beamter des Einwohnermeldeamtes, es könne nicht angehen, ins Geburtsregister zu schreiben, daß das Kind eines Bauern in einer Hose zur Welt gekommen sei, und änderte das volkssprachliche »Càusu« in »Caos«.

      Und seitdem heißt dieses Gemeindegebiet Caos.

      DIE GEBURT

      Signora Caterina Ricci Gramitto, verheiratet mit Stefano Pirandello, Schwefelhändler, bewohnt das große Haus in Porto Empedocle mit ihrer Erstgeborenen Rosolina (so getauft zu Ehren von Rosolino Pilo, dem General unter Garibaldi), kurz Lina genannt.

      Als die Cholera ausbricht, ist Signora Caterina wieder schwanger und hat das Zimmer herrichten lassen, in dem schon Lina zur Welt gekommen ist und in dem nun auch das neue Kind das Licht der Welt erblicken soll.

      Doch die Angst vor einer Ansteckung ist groß. Der Gatte bringt sie zusammen mit der Tochter in ein kleines Haus auf dem Land, das fast am Abhang des ausgetrockneten Flußbettes steht, und von wo aus man das Meer sehen kann. Das Haus befindet sich genau an der Stelle, wo das Gemeindegebiet von Girgenti beginnt. Don Stefano ist kein häuslicher Typ: zum einen, weil er wirklich viel zwischen Palermo und den Schwefelminen im

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