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ein Fall gelöst und das Ergebnis protokolliert war, überließ er den Rest gern seinen Mitarbeitern. Bircher warf ihm einen fragenden Blick zu.

      »Setz dich mal zu mir«, forderte er ihn auf.

      Angler zog einen Stuhl zum Schreibtisch. Irgendwas stimmt nicht, stellte er fest. Sieht nicht nach Urlaub aus.

      »Philipp, erinnerst du dich an die beiden Patienten, die nach einer angeblich harmlosen Operation verstarben? Ihnen wurde ein Herzschrittmacher eingesetzt. Das war vor gut drei Wochen, Anfang September. Man hatte uns informiert, mehr aus formalen Gründen, weil die Todesursache nicht völlig klar war. Am Abend waren die Männer noch quietschvergnügt und erfreuten sich an ihren rund laufenden Herzen, am Morgen fand sie die Frühschicht tot im Bett. Du warst auch mal in der Klinik.«

      Bircher reichte Angler die Unterlagen und streckte sich, die Hände auf seinem ansehnlichen Bauch verschränkt, nachdenklich in seinem Schreibtischsessel aus. Oberleutnant Angler kräuselte die Stirn.

      »Ich kann mich an einen hageren Stationsarzt erinnern, der auch die Operationen durchführte. Der kooperiert mit zwei junge Männern, einem Wissenschaftler und einem Informatiker.«

      »Stimmt, ein EDV-Informatiker. Die arbeiten in einem sogenannten Interdisziplinären Forschungsprojekt zusammen. Es geht um den Einsatz der Herzschrittmacher vom Typ VVI.«

      Angler warf seinem Chef einen erstaunten Blick zu.

      »Aktenstudium.«

      Angler wunderte sich immer mehr. Jetzt, kurz vor dem Urlaub, las der Chef sich in alte Fälle ein?

      »Und wozu die EDV?«, nahm er den Gesprächsfaden auf.

      »Hm, kann ich nicht genau sagen, wahrscheinlich, um die Patientendaten auszuwerten. Das hat uns damals nicht interessiert. Eben EDV.«

      Angler nickte und stierte erneut auf den Aktenstapel.

      »Und was hat das mit dem Berg auf deinem Schreibtisch zu tun?«, fragte er vorsichtig.

      »Alles Fälle, die auf ihren Abschlussbericht warten.«

      »Aber du bist doch nur für zwei Wochen im Urlaub«, wandte Angler erschrocken ein.

      Bircher kniff die Augen zusammen und hob das Brillengestell leicht an, als hätte er seinen Mitarbeiter eine Weile nicht gesehen.

      »Ich verschiebe den Urlaub. An der Sache ist was faul. Das ist nicht irgendein Krankenhaus, wo paar Kardiologen ältere Menschen mit Rhythmusstörungen behandeln und übers Jahr mal einer an Herzversagen verstirbt. Nein, wir müssen der Sache nachgehen, bevor noch ein Abgang gemeldet wird und wir uns Fahrlässigkeit vorwerfen müssen.«

      »Also, Karl, ich habe noch nicht begriffen, an welcher Sache was faul sein soll? An den Schrittmachern?«, fragte Angler, dem das Unverständnis über diese Sache ins Gesicht geschrieben stand. Er begriff nicht, warum Bircher wegen zweier verstorbener Herzpatienten das Wandern mit der Ehefrau abblasen wollte. Wenn es um Mord ginge, klar, dann müsste er hierbleiben. Aber wegen eines stinknormalen Herzstillstandes auf einer kardiologischen Station? Wo sonst, wenn nicht dort, starb man am kranken Herzen?

      »Auf der Station, wo geforscht und operiert wird, sterben mir zu viele. Jetzt bereits drei«, klärte ihn Bircher trocken auf.

      »Es waren nur zwei Männer, und es gab keinen Hinweis auf eine Straftat.«

      »Seit gestern sind es drei, für meinen Geschmack mindestens einer zu viel. Und alle waren vor der Nachtruhe ziemlich gut drauf. Am Morgen gab nur noch der Schrittmacher Lebenszeichen von sich.« Bircher reichte ihm die kurze Mitteilung der Klinikleitung. »Lies selbst.«

      Er wuchtete sich aus seinem Sessel und ging zu einem der Fenster. Einige graue Wolken drohten den sonnigen Tag vorzeitig zu beenden und es schien, als würde jeden Augenblick der unvermeidliche Herbstregen die Stadt verdunkeln. Es wäre ein weiterer Septembertag, den man schnell hinter sich bringen wollte, am liebsten in einem hellen Wohnzimmer. Wenn es in Berlin im Herbst nieselte, dann häufig den ganzen Tag, abends glänzte der schwarze Asphalt wie frisch geteert, und im schräg fallenden Regen brach sich flimmernd das Laternenlicht. Bis heute früh hatten Bircher nur die Wettervorhersagen für Thüringen interessiert, weil ihn Karola drängte, sich passende Schuhe zu kaufen. Wenigstens blieb ihm nun die muffige Schuhabteilung mit dem lästigen Anprobieren irgendwelcher Wanderstiefel erspart. Er hasste es, in Socken auf niedrigen Schemeln zu hocken, um auf die Verkäuferin mit dem nächsten Paar Schuhe zu warten. Bircher richtete seinen Blick über die Dächer der gegenüberliegenden Neubauten in Richtung Volkspark Friedrichshain, er nahm die Umrisse einiger Bäume wahr und dachte mit einem leichten Ziehen in der Brust an Karola. Das wird schwierig, wenn sie heute Abend von mir hört, dass all die schönen neuen Wanderklamotten erstmal im Schrank bleiben. Hm, was soll ich machen, ich kann ja nicht mit dem Verdacht durchs Gelände wandern, dass in Berlin ein Täter frei herumläuft. Er ließ seine Gedanken schweifen und rief sich die Unterhaltung mit seinem Chef ins Gedächtnis. Generalmajor Meier hatte ihn mit dem Hinweis, dass es sich schließlich um die bedeutendste Berliner Klinik handele, um einen persönlichen Besuch gebeten. »Lass dich mal dort sehen, man kann ja nie wissen, ob was dran ist, und dann ist Ruhe«, hatte er achselzuckend gesagt. Bircher hatte sich seinen Teil gedacht und beschlossen, bei dem Besuch seine Dienststellung zu verschweigen. Wenn sich bei den Patienten rumspricht, wer ich bin, na danke, von Herzkranken sollte man jede Aufregung fernhalten.

      Als er damals den Klinikeingang passierte und einen langen Korridor betrat, überfiel ihn dann doch die Neugierde. Ist mein erster Besuch in der Universitätsklinik und ich betrete das Haus nicht als Patient, stellte er fest. Und vielleicht zeigt mir jemand so einen Schrittmacher, könnte ja eines Tages nützlich sein, dachte er, während er leicht schnaufend die Treppen hinauf zur kardiologischen Station stieg. Ob man wohl mit so einem elektrischen Aggregat im Herzen mühelos auf die vierte Etage rennt?, kam ihm ein nicht ganz abwegiger Gedanke. Wäre hilfreich im Präsidium, könnte ich mir den Paternoster sparen. Na ja, interessant sind diese Schrittmacher schon, vor allem, wenn sie plötzlich versagen. Zum Beispiel, wenn die Batterie vorzeitig den Geist aufgibt. Herztod infolge Stromausfalls, hatte er in sich hineingegrinst, als wäre ihm ein Filmtitel eingefallen. Klar, ein technischer Totalausfall, was sonst könnte die Leute im Schlaf hinwegraffen. Herr Professor Sitte belehrte ihn auf dem Stationskorridor eines anderen: »Alle Patienten sind eines natürlichen Todes gestorben, alle wurden mit einem permanenten AV-Block dritten Grades eingeliefert, also höchstes Risiko, an einem Herzversagen zu sterben, mit oder ohne Schrittmacher.« Eine Fehlleistung seiner Ärzte sei ausgeschlossen. Sitte legte die Todesursache mit einer Selbstverständlichkeit fest, dass es Bircher vermied, das Thema weiter zu vertiefen. Über diesen AV-Block würde er sich später informieren. Auf seine vorsichtige Nachfrage hin, ob nicht bereits beim Einsetzen des Gerätes etwas hätte schieflaufen können, hatte der Chefarzt ungnädig abgewinkt: »Aber Herr Major, das ist ein Eingriff wie beim Zahnarzt, wenn der Ihnen eine Plombe ersetzt. Daran stirbt niemand.«

      »Soso, und wieder dieselbe Station?«, riss ihn Angler aus seinen Erinnerungen, der immer noch rätselte, ob die Faktenlage den Urlaubsverzicht rechtfertigte oder ob es andere Gründe gab. Angler hatte sich über die Jahre ihrer Zusammenarbeit daran gewöhnen müssen, dass Bircher nicht sonderlich mitteilsam und gesprächig war, schon gar nicht, was sein Privatleben betraf. Angler hingegen musste man zurückhalten, damit er nicht bereits nach der Hälfte der Frage aufsprang und losstürmte, um nach der Antwort zu suchen. Vielleicht verstanden sie sich deshalb so gut, weil die manchmal ungestüme Art Anglers und die bedächtige Birchers sich vorteilhaft ergänzten. Bircher verlangte beweiskräftige Details, bevor er eine Entscheidung traf, und Angler sorgte dafür, dass sein Chef nicht lange warten musste. Akribisch waren beide, geduldiger war Bircher.

      »Ja, wie ich schon sagte, die kardiologische Station. Du bist damals hingefahren, um dir die Krankenakten erklären zu lassen. Der Name des hageren Stationsarztes ist Wohlfahrt, kann man sich in diesem Zusammenhang gut merken.«

      Angler zuckte mit den Schultern, als wäre der Besuch nicht der Rede wert gewesen. Tatsächlich glaubte er weder damals noch heute, einem Mordfall auf der Spur zu sein. Und nur für diese Art von Gewaltverbrechen waren sie zuständig.

      »Ja, an den erinnere ich

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