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pluralistischen Gesellschaft ihre Anschlussfähigkeit verlieren könnte, lassen sich doch die Argumente, mit denen namentlich Eberhard Jüngel den Wertbegriff und die materiale Wertethik einer fundamentalen theologischen Kritik unterzogen hat, nicht einfach beiseite wischen.

      Ein auf Wertebewusstsein abstellender Bildungsbegriff sieht sich mit denselben Schwierigkeiten wie die materiale Wertethik konfrontiert, deren Ideen vor allem mit den Namen von Max Scheler und Nicolai Hartmann verbunden sind. Im Anschluss an Platons Ideenlehre nehmen beide Philosophen eine überzeitliche Wertordnung an, die an intuitiven Werterfahrungen Anhalt findet und in einem »Wertapriori« gründet. Tatsächlich handelt es sich bei der materialen Wertethik aber um eine Reaktion auf die massive Infragestellung abendländischer Ethiktraditionen durch die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Industrialisierung, die besonders klarsichtig in Friedrich Nietzsches philosophischem Nihilismus und seiner Idee von der »Umwertung aller Werte« reflektiert worden sind. Bereits Nietzsche hat klar ausgesprochen, dass alle Werte, auch solche der Moral, gesetzt werden und konvertierbar sind. Sie sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Werte werden tradiert, aber nicht durch apriorische Wesensschau erkannt. Die Idee einer vermeintlich objektiven Hierarchie von Werten kann nicht über den faktisch vorhandenen beständigen Wertekonflikt in der modernen pluralistischen Gesellschaft hinwegtäuschen. So entpuppt sich selbst noch die Idee eines metaphysischen Wertekosmos als eine bloße Setzung.

      Im übrigen gehen im allgemeinen Sprachgebrauch Begriffe wie Werte, Normen und Tugenden durcheinander. Fragt man z. B., was genau man sich unter christlichen Werten vorzustellen hat, bekommt man zur Auskunft, darunter seien die Würde bzw. die Gottebenbildlichkeit des Menschen oder die Liebe, konkret die Nächstenliebe und die Feindesliebe, zu verstehen. Nun zählt die Liebe – wie Glaube und Hoffnung – nach katholischer Tradition zu den theologischen Tugenden, denen die philosophischen Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, der Klugheit, der Tapferkeit und der Mäßigung zur Seite gestellt werden. Spricht man vom Leben als Wert und göttlicher Gabe, ist keine Tugend, sondern ein Gut angesprochen. Sofern der Wertbegriff denjenigen des sittlichen Gutes abgelöst hat, muss auch zwischen Werten und Normen unterschieden werden, wenngleich heutzutage oftmals von Werten und Normen in einem Atemzug gesprochen wird.

      »Wertethik und christliches Ethos«, so lautet die provokante These Eberhard Jüngels, »sind einander feind.«24 Wer das bezweifelt, sollte sich zunächst mit Krzysztof Michalski daran erinnern, dass »die frühen Christen, soweit wir wissen, nicht von ›Werten‹« sprachen: »weder von ›christlichen‹ noch von ›Familienwerten‹ und erst recht nicht von ›europäischen‹ oder ›nationalen‹ Werten«25.

      Dass es überhaupt möglich sei, den Wertbegriff von seiner ursprünglich ökonomischen Logik zu befreien, wird freilich von Eberhard Jüngel mit guten Gründen bezweifelt. Wie schon Carl Schmitt kritisiert auch Jüngel die »Tyrannei der Werte«, weil jedes Wertdenken seiner Tendenz nach eminent aggressiv sei. »Nicht das Sein der Werte, wohl aber die Realisierung der Werte führt leicht zum Rigorismus, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert.«26 Theologisch gesprochen besteht zwischen der latenten Aggressivität des Wertbegriffs und der Sünde des Menschen ein Zusammenhang. Seine vertiefte Analyse würde eine differenzierte Betrachtung des Phänomens der Macht erfordern, die hier freilich nicht erfolgen kann. Wie schon von Max Weber zu lernen ist, hat die Rhetorik der Werte die »Benutzung der ›Ethik‹ als Mittel des ›Rechthabens‹« zur Folge.27 Die Berufung auf Werte führt außerdem, wie Michalski zeigt, immer zur Abgrenzung gegenüber irgendwelchen »anderen«, die aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen werden; »erst durch diese Ausschließung wird eine bestimmte, wird jede menschliche Gemeinschaft zu dem, was sie ist, bekommt sie ihren spezifischen Charakter«28. Michalskis lapidares Fazit lautet: »Werte verbinden nicht, Werte trennen.«29

      Gerade Kirche und Diakonie sollten sich ein Sensorium für die Gefahr einer Tyrannei der Werte bewahren und der Versuchung widerstehen, zu bloßen Moralagenturen zu werden.30 Denn sie wissen sich für jene Menschen verantwortlich, die in unserer Gesellschaft abgewertet und ausgegrenzt werden. Geschichte und Gegenwart kennen genügend Beispiele dafür, dass das menschliche Leben selbst zum Gegenstand von Wertungen gemacht und nach seiner Verwertbarkeit und Nützlichkeit taxiert wird.

      Allen Beschwörungen der unendlichen Würde des Menschen, die keinen Preis hat, zum Trotz werden durchaus Berechnungen angestellt, was ein Mensch heutzutage wert ist. Hier einige Rechenbeispiele des deutschen Journalisten Jörn Klare:31 Ein afrikanisches Adoptivkind kostet mit allen erforderlichen Papieren etwa 20.000 Euro. Addiert man in unseren Breitengraden das Schmerzensgeld für alle Körperteile, ergibt sich die stattliche Summe von 1,7 Millionen Euro. Spitzensportler dagegen sind ungleich teurer, wenn man an die Ablösesummen für Profifußballer und die für sie gezahlten Versicherungssummen denkt. Christiano Ronaldos Beine sind bei Real Madrid mit je 90 Millonen Euro versichert, und für den Fußballstar Lionel Messi vom FC Barcelona beträgt die Ablösesumme derzeit 150 Millionen Euro. Dass der Mensch, wie Immanuel Kant argumentiert, keinen Preis oder Tauschwert, sondern Würde – und das heißt einen unendlichen Wert – besitzt, klingt nicht nur in Anbetracht solcher exorbitanten Summen wie fromme Lyrik, sondern auch, wenn man bedenkt, dass eine Frau in Albanien für lächerliche 800 Euro, eine Niere in Indien für 300 Euro zu haben ist.

      Der menschenverachtenden Logik der Unterscheidung zwischen Wert und Unwert von Menschenleben entkommt man freilich nicht einfach dadurch, dass man Gegenwerte etabliert und eine Umwertung der Werte propagiert. Das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist, unterbricht vielmehr auf heilsame Weise die Logik des Wertens und Umwertens.

      Um konkret zu werden: Wenn jemand einen Ausländer vor einem Angriff durch gewalttätige Neonazis zu schützen versucht, geht es nicht um die Verteidigung von Werten – z. B. des »Wertes« der Toleranz, bei der es sich eigentlich um eine Tugend handelt –, sondern um die Verteidigung eines Menschenlebens. Der bedrohte Mensch soll um seiner selbst willen geschützt werden, nicht aus Bindung an einen Wert wie Toleranz, und auch nicht in dem Sinne, dass »Nächstenliebe« der Begriff für eine allgemeine moralische Regel wäre, die es im Einzelfall kasuistisch anzuwenden gilt. So gesehen ist Nächstenliebe in der Tat kein Wert und keine Norm, sondern eine transmoralische Orientierung menschlichen Handelns. Wer dagegen aufgrund einer am »Wert« der Liebe orientierten moralischen Erwägung handelt, handelt gerade nicht aus Liebe.

      Wer aber aus Liebe oder aus Erbarmen dem als Beispiel gewählten Ausländer, der sich in Lebensgefahr befindet, beisteht, für den stellt sich die Frage, ob ein derartiges Verhalten mit dem Wert der Toleranz vereinbar ist oder sich aber in den Widerspruch einer Intoleranz gegenüber Intoleranz verstrickt, schlicht nicht. Sie wäre in der geschilderten Situation höchst befremdlich. Und eben diese Befremdlichkeit markiert den Unterschied zwischen Liebe und dem vermeintlichen Wert »Liebe«.

      Aufgabe der Ethik als kritischer Theorie der Moral ist es, »vor Moral zu warnen«32 und deren Anwendungsbereich zu limitieren, wie Luhmann treffend schreibt. Theologie und theologische Vernunft haben dazu, wie noch gezeigt werden soll, einen spezifischen Beitrag zu leisten, wobei sich die Aufgabe der Moralkritik mit derjenigen der Religionskritik verbindet, nämlich der Kritik an einer Religionsauffassung, die Religion auf Moral reduziert und mit der moralischen Funktionalisierung der Religion die Hypermoral noch steigert.

      Neben der Aufgabe, vor zuviel Moral und ihren ambivalenten Folgen zu warnen, bleibt es freilich auch Aufgabe der Ethik, die Unverzichtbarkeit von Moral zu begründen und auf den Unterschied zwischen Moral und Moralisierung hinzuweisen. Moral also solche bleibt eine wesentliche Seite unseres Menschseins, weil das Phänomen der Moral mit unserem Personsein als solchem gegeben ist. Insbesondere hat der dialogische Personalismus den Umstand zu Bewusstsein gebracht, dass Personalität stets nur als intersubjektives Phänomen auftritt. Zum Ich wird der Mensch nur, wenn er als ein Du angeredet wird. Die Existenz von Personen ist also konstitutiv an sprachliche Kommunikation gebunden, ohne doch in ihr völlig aufzugehen. Personale Kommunikation aber impliziert den Anspruch auf Achtung dessen, der mich als Du anspricht. Dieser Anspruch auf Achtung bzw. Anerkennung kann im Einzelfall missachtet oder zurückgewiesen werden. Er ist aber mit dem Anredegeschehen als solchem gegeben und zwingt in jedem Fall zu einer Stellungnahme.

      Moral basiert auf der Notwendigkeit der Stellungnahme zu dem mit der interpersonalen

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