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Theologie und Kirche von unterschiedlichen Seiten aufgefordert werden, zu den drängenden ethischen Konflikten Stellung zu nehmen, scheint sich damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf ethischem Gebiet jene Relevanz wiederzugewinnen, welche Theologie und Kirche im Gefolge immer neuer Modernisierungsschübe verloren haben. Tatsächlich aber sind beide der Gefahr ausgesetzt, ideologisch funktionalisiert und missbraucht zu werden.

      Zunächst gilt es, zwischen Moral und Ethik zu unterscheiden. Auch wenn Ethik, die nach Gründen für moralisches Handeln und moralische Urteile fragt, selbst moralhaltig ist, handelt es sich doch bei ihr um eine kritische Theorie der Moral, die sich mit ihren lebensdienlichen wie ihren lebenshemmenden Seiten und ihren Mehrdeutigkeiten beschäftigt. Es ist eben nicht nur nach der Moralität risikoreicher Entscheidungen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zu fragen, sondern auch nach der Risikoträchtigkeit der Moral. Moralisierungen tragen nicht unbedingt zur Versachlichung von Entscheidungen bei. Moral und ihre Sprache sind nämlich ein höchst ambivalentes Phänomen. Sie dienen dem menschlichen Leben und Zusammenleben. Wir Menschen leben nicht einfach unser Leben, sondern wir haben es bewusst zu führen und zu verantworten. Dabei hilft uns Moral. Sie kann aber auch das menschliche Leben beschädigen. Die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse dient in der Gesellschaft der Zuteilung von Achtung und Missachtung von Personen. Missbilligt werden nicht nur einzelne Taten und Einstellungen. Geächtet werden vielmehr auch Menschen, deren Handlungs- und Lebensweise anderen nicht gefällt. Am Ende heißt es eben nicht nur: »Das war eine schlechte oder böse Tat«, sondern: »Das ist ein schlechter oder böser Mensch.«

      Wer zwischen Gut und Böse unterscheidet, wähnt sich üblicherweise auf der Seite des Guten. Wird ein politischer Konflikt zu einem moralischen erklärt, dann stehen nicht länger bessere oder schlechtere politische Optionen und ihre möglichen Folgen zur Wahl, sondern die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Der politische Gegner wird zur moralisch minderwertigen Person abgewertet. Die Ambivalenz der Moral zeigt sich auch an ihrer Sprache. »Gleich werde ich aber böse!«, fährt die entnervte Mutter ihr ungezogenes oder quengelndes Kind an – und kommt sich dabei selbstverständlich gut vor. Wer sich vom Zorn hinreißen lässt, wird von der Tugendethik belehrt, dass man seine Affekte im Zaum halten soll. Immanuel Kant lehrt überhaupt, dass wir uns von der praktischen Vernunft und nicht von Sympathien und Antipathien leiten lassen sollen. Doch den sprichwörtlichen heiligen Zorn vermeintlicher moralischer Überlegenheit ficht das nicht an.

      Wie Axel Honneth im Anschluss an Hegel zeigt, lassen sich gesellschaftliche Konflikte nicht bloß auf materielle, ökonomische Verteilungskämpfe reduzieren.15 Sie sind vielmehr immer auch ein Kampf um Anerkennung, der mit Mitteln der Moral und der Moralisierung, aber auch mit Mitteln der Religion ausgetragen wird. Im heutzutage auch massenmedial ausgetragenen Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit (Erich Fromm) getrieben. Im gesellschaftlichen Kampf um Anerkennung tritt der »polemogene« Charakter der Moral ans Tageslicht, von dem Niklas Luhmann spricht.16 Damit ist gemeint, dass Moral Konflikte nicht etwa befriedet, sondern im Gegenteil verschärft. Ethos, Moral und Religion dienen zum Beispiel nicht eo ipso der Eindämmung von Krieg und Gewalt, sondern können diese noch zusätzlich befeuern. Dass aber der Widerstreit moralischer Werte und der Konflikt divergierender Ethiken in ein universales Weltethos aufgehoben werden könnten, ist eine trügerische Hoffnung. »Sechs Milliarden Menschen«, so der Soziologe Karl Otto Hondrich, »über den gleichen moralischen Leisten zu schlagen – das wird die Konflikte der Kulturen und Interessen nicht abmildern, sondern anheizen.«17

      Wie eingangs erwähnt, hat bereits Arnold Gehlen auf fragwürdige Tendenzen einer Hypermoral hingewiesen. Als Hypermoral kritisierte er einen universalistischen Humanitarismus, der sich über gesellschaftliche Institutionen stelle, das Ethos der Familie zu einer allgemeinen Menschheitsliebe überdehne, darin aber praktisch folgenlos bleibe. In der Aufklärung, so Gehlens Kritik, habe sich ein universalistischer Humanismus mit einem eudämonistischen Ethos verbunden, das zum Massenphänomen geworden ist. Nachdem Religion und Metaphysik obsolet geworden sind, werde der Sinn des Lebens und der Gesellschaft nur noch in der privaten Subjektivität und ihren Interessen gesucht. »Da die Menschheit nichts Größeres mehr außer sich sieht, muß sie sich selbst umarmen und ihr immer schon wahnhaftes Glücksverlangen von sich selber erwarten.«18

      Hypermoral ist eine Folge nicht nur der Infragestellung herkömmlicher Institutionen wie Staat und Familie, sondern auch der Abdankung Gottes in der Moderne. Die Theodizee mutiert zur Anthropodizee, wie der Philosoph Odo Marquard im Anschluss an Gehlen argumentiert. Die Weltgeschichte mutiert zum Weltgericht, in dem der Mensch zugleich Ankläger und Angeklagter ist, weil es außer ihm niemanden mehr gibt, der für den Lauf der Geschichte verantwortlich zu machen wäre. Selbst Naturkatastrophen werfen heute sofort die Frage auf, welche Menschen wohl für sie verantwortlich zu machen seien, zum Beispiel weil sie nicht rechtzeitig umfassende Präventionsmaßnahmen ergriffen haben. Im Großen wie im Kleinen findet das statt, was Marquard die Übertribunalisierung der modernen Lebenswelt nennt.19 Wenn Menschen auf Kirchentagen eine große Weltkugel auf ihren Händen durch den Raum balancieren, um so die Verpflichtung zur Bewahrung der Schöpfung zu versinnbildlichen, veranschaulichen sie damit, wie weit bereits auch in den Kirchen die Hypermoral um sich gegriffen hat. Nicht Gott, sondern der Mensch hält die Welt in seinen Händen.

      Die Tendenz zur Hypermoral prägt auch den Diskurs über Werte, die als »Ligaturen« (Ralf Dahrendorf) einer pluralistischen Gesellschaft beschworen werden. Allüberall ist von Werten die Rede, die es insbesondere gegen alle Spielarten von Rechtspopulismus und religiösen Fundamentalismus zu verteidigen gelte, als da wären: Freiheit und Selbstbestimmung, Offenheit, Toleranz, Vielfalt, Inklusion und Teilhabe. Europa, so das gängige Mantra, darf sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern muss sich auch als Wertegemeinschaft begreifen. In der Achtung und der Durchsetzung bestimmter Werte kann man so etwas wie eine Staatszielbestimmung für die Europäische Union erkennen. Für diese wiederum reklamieren die Kirchen, dass sie ohne die Prägekraft des Christentums oder – etwas weiter gefasst – ohne die Prägekraft der christlich-jüdischen Tradition keinen dauerhaften Bestand haben.

      Auch im Wirtschaftsleben wird der Ruf nach sittlichen Werten laut, die sich von ökonomischen Werten unterscheiden und der Alleinherrschaft einer ökonomischen Logik Einhalt gebieten sollen, die letztlich auch das menschliche Leben zur Ware oder zum Produktionsfaktor degradiert. Der Ruf nach Werten, die einer unbarmherzigen ökonomischen Logik Einhalt gebieten sollen, ist auch eine Reaktion auf die 2008 ausgebrochene internationale Finanzkrise, den Zusammenbruch großer Banken und die anhaltende Krise der Europäischen Währung. Seither wird in Talkshows über die Moral von Bankern und Managern diskutiert, und plötzlich waren wieder Kirchenvertreter als Ratgeber gefragt, welche Werte unsere Gesellschaft braucht. Der katholische Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, veröffentlichte wie sein berühmter Namensvetter Karl ein Buch mit dem Titel »Das Kapital«, in welchem er das Kapital als den großen Ethikfresser brandmarkt,20 und Hans Küng appelliert an die Unternehmer weltweit, wieder anständig zu wirtschaften und ein neues, wertorientiertes Wirtschaftsethos zu entwickeln.21 Im Rahmen dieser neuen Wertediskussion sind auch christliche Werte in Wirtschaft und Gesellschaft wieder gefragt. Gleichzeitig werden Stimmen laut, die davor warnen, die Kirchen auf die gesellschaftliche Funktion der Wertevermittlung zu reduzieren und damit einer Ethisierung des Evangeliums und der Reduktion des Glaubens auf Moral Vorschub zu leisten.

      Damit findet eine Diskussion ihre Fortführung, die in Deutschland schon Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einsetzte und mit der Frage nach der Begründung von Normen und mit der verfassungsrechtlichen Grundwertedebatte verbunden war, damals aber auch gesellschaftliche, wissenschaftlich-ethische und theologische Widerstände hervorrief. Namentlich Eberhard Jüngel hat die Frage nach Werten als »erzkatholisch« zurückgewiesen und wie der Politikwissenschaftler Carl Schmitt vor einer »Tyrannei der Werte« gewarnt.22 Dagegen hat Martin Honecker »das merkwürdige Bündnis« in Frage gestellt, »das evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts gelegentlich mit dem Nihilismus und Wertrelativismus eingegangen ist«, und die Frage gestellt, ob es nicht unbeschadet aller Probleme, mit denen die materiale Wertethik behaftet sei, »gleichwohl einen inneren Bezug von Religion und Wert« gebe.23

      Problematisch bleibt in jedem Fall, dass Begriffe wie »Wert« und »Wertbewusstsein« einigermaßen

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