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      Ich meine, Papa hat echt was auf dem Kasten, und auch, wenn er kein Mathemensch ist, kann er logisch denken. Aber in dem Punkt setzt irgendwas bei ihm aus. Und er scheint auch nicht zu kapieren, dass die Sache mit dem Nicht-im-Bus-gewesen-Sein noch das geringste Problem ist, das ich heute in dieser Schule haben werde. Es sei denn, er lässt mich jetzt endlich abhauen.

      »Ich hab’s eilig«, sage ich und drücke meine Knie in seine Rückenlehne. »Wir haben Erste, Zweite Erdkunde beim Frings, da darf man nicht zu spät kommen.«

      »Es ist zehn vor acht!«, erwidert Papa und das Fragezeichen auf seinem Gesicht verwandelt sich in ein Ausrufezeichen. »Wir können in aller Ruhe zusammen gehen.«

      »Hör mal, Christian«, sagt Josefine da – Christian, nicht Papa! –, schiebt sich einen Streifen Kaugummi in den Mund, und ich sehe im Rückspiegel, wie sie ihn mit der gepiercten Zunge faltet und sich in die Backe schiebt, »du merkst doch wohl, dass es Malte peinlich ist, mit mir zusammen gesehen zu werden.«

      Und das ist ja wohl das Unangenehmste der Welt, vor allem, weil Papa immer noch guckt und wahrscheinlich sieht, dass ich rot werde, und weil er dann auch noch fragt: »Ist es dir peinlich, mit deiner Schwester zusammen gesehen zu werden? Oder mit mir?«

      »Quatsch«, murmle ich. »So meinte ich das nicht.«

      »Na, dann.« Papa zieht den Zündschlüssel ab und steigt endlich aus dem Auto. »Auf geht’s!«

      Seine Stimme klingt, als wäre die Sache für ihn erledigt. Er klappt die Lehne um, lässt mich aus dem Auto krabbeln, und was bleibt mir da anderes übrig, als hinter ihm herzulatschen – neben mir meine Halbschwester, die jetzt plötzlich vor sich hin grinst und ihren Kaugummi kaut und auch nicht den Anschein erweckt, als hätte sie vor, ihn bei der Eckert rauszunehmen. Überhaupt sieht sie nicht aus wie an einem ersten Tag an einer neuen Schule, an dem man einen guten Eindruck machen will. Im Gegenteil, sie wirkt eher so, als wollte sie einen ganz anderen Eindruck machen mit diesem fetten Loch im Hoodie, ohne Winterjacke, obwohl es höchstens sechs, sieben Grad sind, und den Haaren, die so verwuschelt unter der Kapuze hervorgucken, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekippt – was sie natürlich nicht ist. Sie war schon richtig früh wach und hat im Keller rumgelärmt und sich, wenn man mich fragt, sorgfältig gestylt, aber es fragt mich ja keiner. Bloß gucken tun alle, als wir über den Hof zum Schulgebäude gehen. Wer da Neues kommt und wer Nicht-Neues und dass Papa dabei ist, und vermutlich gehen dann auch schon die Spekulationen los: Woher dieses Mädchen plötzlich kommt und was ich mit der zu tun habe und wie das familientechnisch zusammenhängt.

      Ein paar Leute aus meiner Klasse sehen uns auch, und Kolja, der da in seinen runtergelatschten Sneakers rumsteht, zusammen mit anderen aus der Zehnten, und als ich ihn im Vorbeigehen grüße, fällt mir glühheiß ein, dass Josefine ja vielleicht in seine Klasse kommt.

      Der Frings lässt uns einen unangekündigten Test schreiben, Hausaufgabenkontrolle, wie er das nennt, weil wir zu jeder Stunde vorbereitet erscheinen sollen, egal, ob er es extra sagt oder nicht. Jedenfalls müssen wir Fragen zur extensiven Weidewirtschaft beantworten, Rentierhaltung in Lappland und dergleichen, und als die erste Pause beginnt, vergleichen die meisten erst mal ihre Antworten: Überweidung der Tundra, Verbiss der Jungbäume. Aber kaum sind die Brotdosen ausgepackt und alle auf dem Gang, kommt, was kommen muss.

      »Wer war das heute Morgen mit dir und deinem Vater?«, fragt Mats, und Philipp schließt gleich auf, um mitzuhören.

      Ich hab keine Lust zu antworten. Mats und Philipp sind nicht meine Freunde, was geht sie da so was an. Allerdings komme ich mit Schweigen nicht weit, jetzt geht einer rechts neben mir, einer links, und sie lassen nicht locker.

      »Die sah irgendwie schräg aus«, sagt Philipp.

      Mats nickt, und beide gucken so, als wäre ich ihnen nun aber wirklich eine Erklärung schuldig.

      »Ach, nur meine Halbschwester«, erwidere ich, als wir auf dem Schulhof ankommen, weil, ganz verderben darf ich es mir mit Mats und Philipp auch nicht. Sie sind zwar nicht meine Freunde, aber wir stehen in den Pausen meistens zusammen rum, und das ist auch nicht ganz unwichtig.

      »Wusste ich ja gar nicht!«, ruft Mats. »Dass du eine hast.«

      »Doch, hab ich.« Ich zucke mit den Achseln, als wäre es das Normalste der Welt und nicht weiter erwähnenswert. Aber jetzt sind sie neugierig.

      »Wie alt ist die?«

      Und: »Wohnt die neuerdings bei euch?«

      Und: »Sind die Piercings echt?«

      Und: »Hat die auch Tattoos?«

      Und: »Wer ist denn ihre Mutter?«

      Nervig. Vor allem, weil Kolja gerade aus der Eingangshalle kommt und direkt auf mich zusteuert. Da fallen mir ganz andere Sachen zum Unterhalten ein, Mathesachen vor allem.

      Kolja ist mein Freund, aber wir stehen in der Pause fast nie zusammen rum. Wenn einer in der Zehnten ist, stellt er sich nicht zu einem Siebtklässler, ist ja klar. Das geht einfach nicht und ich bin deswegen echt nicht sauer auf Kolja. Aber ich freu mich ziemlich, wenn er dann doch mal ankommt, es sind mit Abstand die besten Pausen. Letztes Mal haben wir uns über Fraktale unterhalten, diese selbstähnlichen Gebilde, und deswegen würge ich das Mats-und-Philipp-Gespräch jetzt auch mit einem knappen »Erzähl ich euch nachher!« ab, mache zwei Schritte von ihnen weg und auf Kolja zu.

      Aber ich hätte es wissen müssen: Er fragt nach Josefine.

      Nein, nicht Schwester, sondern Halbschwester.

      Nein, nicht für immer, sondern nur für ein paar Wochen.

      Mutter, Krebs, Reha.

      Immerhin ist sie nicht in seiner Klasse, sondern in der C, aber in der ersten Doppelstunde hatten sie wohl Werte und Normen, da ist alles gemixt.

      »Sie hat den gesamten Unterricht lahmgelegt«, sagt Kolja, und ich kann quasi hören, wie Mats und Philipp hinter meinem Rücken den Atem anhalten. »Die Eckert hat sie um zwanzig nach acht reingebracht und dann ging gar nichts mehr.«

      »Äh, wieso?«, frage ich vorsichtig.

      Kolja grinst, stößt sogar einen kleinen Lacher aus. »Och, eigentlich hat sie sich nur am Unterricht beteiligt. Aber frag mich mal, wie! Sie hat wohl ihre ganz eigenen Werte und Normen

      Mir wird es mulmig. »Worum ging es denn?«

      »Grob gesagt um Gleichberechtigung. Zumindest am Anfang.«

      »Und dann?«

      »Um alles, würde ich mal sagen. Abtreibung. Bienensterben. Klimaschutz. Emotionalen Missbrauch. Kopftücher. Funktionellen Analphabetismus. Versammlungsfreiheit. Willst du noch mehr hören?«

      »Nee, lieber nicht«, murmle ich.

      Kolja grinst wieder. »Aber cool ist sie ja. Irgendwie.«

      Wir schweigen eine Weile. Dann, plötzlich, boxt er mir gegen die Schulter, verkündet: »Wir sehen uns im Matheclub«, dreht sich um und verschwindet wieder zu seinen Zehntklässlern.

      Und diese letzte Bemerkung ist bis jetzt die beste, die heute jemand gemacht hat. Die einzig gute, genauer gesagt.

      Nach der Mittagspause ist es dann so weit. Der Zerhusen lässt uns warten, vermutlich wegen der IGSlerin, die er noch in Empfang nehmen muss, aber der Raum ist offen und wir setzen uns schon. Viele sind wir in diesem Schuljahr nicht im Matheclub, Kolja aus der Zehnten, Pia aus der Neunten, Gregor, Chen und Leonie aus der Achten und dann noch ich. Eigentlich ist der Club ja erst ab Jahrgang 8, aber ich durfte ausnahmsweise schon in der Fünften mitmachen, und abgesehen von Kolja bin ich auch der einzige, der da echt was will. Matheolympiade und so was.

      Und jetzt also auch die Neue. Ich stütze den Kopf in die Hand und linse zur Tür, während Kolja meine Aufgabe zur Sinusfunktion durchguckt.

      »Soweit ich’s erkennen kann, ist alles richtig«, sagt er. »Aber sauschwer, das Teil. Hast du’s ganz ohne Hilfe rausgekriegt?«

      »Mhm«,

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