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Der Gang durch das Ried. Elisabeth Langgässer
Читать онлайн.Название Der Gang durch das Ried
Год выпуска 0
isbn 9788726482409
Автор произведения Elisabeth Langgässer
Жанр Математика
Издательство Bookwire
»Und wohnt noch auf dem Lager?«
»Ja – wo die Soldatenkirche mit dem offenen Glockenstuhl steht.«
»Eine schöne Nachbarschaft«, sagte der Junge und versuchte, gemein zu lachen.
»Der Teufel sitzt immer daneben und blättert in seinem Gebetbuch, von dem du ’ne Seite gefunden hast.«
Nun trugen sie Reisig zusammen und warfen es über die Stümpfe, entzündeten ein Feuer und schoben das leere Portefeuille, die Spielkarte und das Vesperpapier mit ihren Schuhen hinein. Weil die Luft sehr feucht war, qualmte die Glut und biß wie ein wütendes Tier, das sich klein macht gegen den Rauch. Die Herzdame rollte zusammen, das zerrissene Futter der Tasche brannte langsam und lange aus. »Gehen wir?« fragte der Junge. Sie nahmen ihren Rucksack und banden die Werkzeuge ein, verschnürten ihn, setzten ihn auf und marschierten, den Daumen am Riemen, auf die dunkeln Schießstände zu.
»Wo hast du das Geld?« fragte plötzlich der Alte. »Vergessen«, gab der Bursche zurück und wollte sich wieder wenden. »Ich hole es«, sprach der andere rasch, »du wartest am Kugelfang.«
Der Junge ging weiter, pfiff vor sich hin und stellte die Schultern hoch. Es nieselte jetzt aufs neue, da und dort brachen dürre Ästchen herunter, und Waldmäuse raschelten. Der Bursche entsann sich, daß dieser Sommer, welcher naß und madig gewesen war, die Tiere angereizt hatte, sich fürchterlich zu vermehren – weiter drinnen im Ried gab es Felder, die bei Tage von ihnen wie überschwemmt und unter den wandernden Rücken fast völlig verschwunden waren; die Leute pilgerten scharenweise zu der ägyptischen Plage und starrten das Wunder an. Ein Brechreiz stieg in dem Arbeiter hoch, seine Füße glitschten und suchten nach Halt, dabei hatte er das Empfinden, auf Mäuseleiber zu treten, die, fett und erfüllt von junger Brut, auseinanderzuplatzen schienen. Nun tauchten zwischen den Bäumen die Kugelfänge auf und hoben ihre Galgengerüste sehr still in den herbstlichen Himmel, der krähengrau dunkelte. Der Bursche, noch immer pfeifend, ging, wunderlich durchlöchert und schwach in den Fußgelenken, auf den ersten von ihnen zu und wartete in der Schußbahn, die schon von Nesseln, Wollkraut und Gras überwuchert war. Ihn fror jetzt, er wurde sich selbst zum Gespenst und versuchte, die Begierde von vorhin zu erwecken, indem er sich an das Kartenblatt mühsam erinnerte; doch rollte es immer wieder, kaum gegenwärtig, zusammen und brannte wie unter Rauch. Er wölbte die Hände vor seinem Mund, blies, hauchte und fachte das Feuer an und sah nun deutlicher, was er zu sehen wünschte. »In das Herz getroffen?« flüsterte er, und dann: »in das Schwarze getroffen!« Als habe er einen Witz gemacht, fing er lange zu lachen an, lachte leiser, lallte vor Schrecken und fühlte, er war nicht allein. Vorsichtig wandte er seinen Kopf, als ob ihn ein Hexenschuß angerührt hätte, und blinzelte empor. Auf dem verfallenen Dach des Munitionsgebäudes saß ein Affe – nein: ein Zuave – nein: ein Gerippe in einem Soldatenmantel und blickte fürchterlich her. Der Bursche schrie wie von Sinnen und lief gegen Norden hin, verfing sich in glatten Wurzeln, in Ginster- und Brombeersträuchern, die ihn umarmen wollten, stürzte nieder und fühlte die Woge der Wollust ihn, mit Grauen vermischt, überströmen. Als er aufstand, blutete seine Hand; die Kappe war abgefallen. Er leckte die Wunde, umwickelte sie mit seinem Taschentuch und suchte nach der Mütze; erkannte sie endlich, bedeckte sich wieder und schlich wie ein geprügelter Hund auf die nahe Landstraße zu . . .
Jean-Marie Aladin sah ihm, vom Dach seiner Hütte aus, ohne Laut und Bewegung nach. Er hielt noch immer den Hammer, mit welchem er die geteerte Pappe, die ausgefetzt war, vernagelt hatte, still in der starren Faust. »He – Peter!« rief jetzt eine Stimme. Der ältere Holzhauer näherte sich und kam zu den Kugelfängen, schaute um und rief aufs neue; dann zuckte er mit den Schultern und wanderte davon. Er ging nach der Richtung des Lagers auf die Braunshardter Hausschneise zu; der Weg war angestiegen und führte ihn in das Dünengelände, wo noch ein alter Entfernungsmesser schräg in dem Sande stak. Hier war auch die Lagergrenze und das doppelsprachige Schild, welches abgehärmt mit den Zähnen fletschte und das Betreten des Platzes bei schwerer Strafe verbot. Der Arbeiter, als er vorüberkam, klopfte leis mit dem Knöchel des Zeigefingers an die vergitterte Fläche – ein klappernder Fensterflügel in einem Verwaltungsgebäude rief unaufhörlich: »herein«.
Nun war es völlig Nacht geworden auf dem einsamen Totenfelde. Der Mann ging zwischen den Häusern hin und nahm, wie ihm dünkte, die Geisterparade der eigenen Träume ab. Sie waren sehr offen und hatten Riegel, die lose herunterhingen, doch mochte sie keiner betreten; ihre Türen quollen im Rahmen und waren breiter geworden, von Grasschwellen angehemmt, so daß es dem Wind nicht möglich war, sie von innen her aufzudrücken; jeder Raum verbarg einen andern und dieser wieder einen; doch sich aufzuhalten, war sinnlos, denn alle waren leer. So stellte sich nun einmal das Leben heute dar: »nichts dahinter!« sagte der Mann sehr laut, griff nach der Taschenlaterne und schnitt sich einen Weg durch Ängste und Dunkelheit. Doch nun vereinzelte jeder Baum, jede Fensterhöhle, und jeder Stein wurde scharf und schäbig am Rande. Auf elende Weise ernüchtert, ging der Arbeiter mißmutig weiter, als ihm plötzlich vorkam, ein Lichtschein dringe rötlichgelb und flackernd aus einer Seitenstraße. Erschrocken deckte der Mann mit beiden Händen das Lämpchen zu und hielt den Atem an – wie er wußte, trieb sich sehr häufig landfremdes Räubergesindel hinter dem Schießplatz umher. Auch dachte er an das Lagermädchen und ob sie ihr Haus gewechselt habe, schlich, zauberisch angezogen, auf das Helle von hintenher zu und kroch auf allen vieren bis an das niedere Fenster einer steinernen Hütte hin. Es war unbedeckt, aber geschlossen, und als der Mann sich emporhob, sah er deutlich den ganzen Raum.
Von der Decke hing eine Petroleumlampe und warf einen runden Lichtschein auf den rostigen Eisentisch, der in der Mitte stand und ein offenes Köfferchen mit seidenen Halstüchern, Socken und bunten Krawatten trug. Den Rücken zum Tisch, saß ein Knabe auf einem winzigen Hocker, hatte neben sich noch einen andern stehen, auf welchem sich Bürsten und Flaschen, zwei Salbentöpfchen, ein Necessaire und ein Nadelkissen befanden, und zog, den Blick nach der Wand gerichtet, wo ein Spiegel hängen mußte, andächtig den Scheitel nach; griff nach dem Töpfchen und salbte, betupfte sich auch die Ohren, entkorkte eine Flasche und goß ein paar Tropfen aufs Taschentuch, das er, den Winkel nach oben, in seine Jacke tat und aufmerksam beroch. Dann erhob er sich, stellte den einen, hierauf den andern Fuß auf das wacklige Hockerchen, griff nach der Haarbürste, spuckte darauf und wichste die hellgelben Schuhe, bis sie ihm endlich genügten und er sich langsam im Kreise, hernach im Tanzschritt bewegte und seinen eigenen Anblick erblühend in sich trank. Nun sah man: es war kein Knabe, obwohl sein Gesicht noch schattenlos und die Hüfte mädchenhaft schien. Es war ein bräunlicher junger Mann, ein Marokkanerchen. Er wandte sich nach dem Eisentisch, entleerte den kleinen Koffer und glättete die Krawatten, legte Socken und Halstücher sorgsam zusammen und machte sich Notizen in einem Büchelchen, warf Geld auf die Platte und zählte, verschloß einen Teil des Geldes in einem Tannenschrank, neben welchem ein ganz zerschlissenes, antikes Damastsofa stand, hob sich langsam und fast genußvoll auf seine Zehenspitzen und wollte eben die Lampe löschen, als er das fremde Gesicht an den niederen Scheiben gewahrte und vor Schrecken versteinerte.
Der Arbeiter legte beide Arme auf die verwitterte Fensterbrüstung, nahm sich Zeit und klopfte dann an.
»Echte Seide! Seide mit Wolle, mein Härr! Alles preiswärt, alles billis, direkt aus Paris gekommen«, sagte der Jüngling zitternd, indem er öffnete.
An dem Akzent und dem Sprüchlein erkannte der Arbeiter ihn. »Ach, Mohammed!« rief er leise, »hier wohnt der Krawattenprophet?«
»Selbstbinder? Schal unters Mäntelchen? Feine Sokken?« drängte der Junge und hielt auf gebogenen Armen die schlechte Hausiererware inbrünstig zum Fenster hinaus.
Der Arbeiter warf seinen Rucksack zur Erde und knöpfte die Jacke auf. »Gib her . . .« er schlang einen Selbstbinder um und knotete ihn gefällig, legte mehrere Tücher darüber und schlug die Jacke zu. »Allons!« rief er dann lustig und wandte sich zum Gehen.
»Drei Mark und zwansig«,