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      Axel Rudolph

      Rätsel um Herta

      Kriminalroman

      Saga

      I.

      Durch die hohen Glasfenster des Büros schimmert schiefergrau und regennaß das winklige Gewirr der Dächer jenes alten Paris, das sich auf der Ile de la Cité zusammengedrängt hat.

      Monsieur Pollin, der Chef und Inhaber der optischen Fabrik Jacques Pollin Fils klopft nervös mit einem Bleistift auf die vor ihm liegende Unterschriftsmappe und wirft einen Mitleid und Verständnis heischenden Blick hinüber zu Monsieur Freeman, dem Produktionsgewaltigen aus Joinville, der mit halb geschlossenen Augen in seinem Sessel liegt und anscheinend der peinlichen, in den Ateliers Pollins ganz ungewöhnlichen Szene kein Interesse abgewinnen kann.

      Kommissar Valvert von der Sûreté, der als Amts- und Hauptperson den Mittelplatz hinter dem massiven, langgestreckten Schreibtisch einnimmt, heftet seine flinken Jettaugen forschend auf den in bescheidener Haltung vor ihm stehenden jungen Mann.

      „Sie heißen Henry Heitinger?“ Der Name holpert ein wenig im Munde des Parisers. „Gebürtig aus Mulhouse?“

      „Jawohl, mein Herr.“

      „Französischer Staatsangehöriger“, fährt der Kommissar fort, einen kurzen Blick auf das vor ihm liegende Papier werfend. „Hm. Ihre Eltern sind ... wann eingewandert?“

      „Meine Eltern und auch meine Großeltern waren Elsässer, Herr Kommissar. Unsere Familie war bereits um 800 dort ansässig.“

      „Also Franzose.“ Valvert nickt erfreut und mildert seine Strenge zu amtlich-freundlicher Verbindlichkeit. „Man hat Ihnen aus Ihrer Rocktasche einen Betrag von 5000 Franken entwendet?“

      „Jawohl, mein Herr.“ Röte und Blässe wechseln auf dem Gesicht des jungen Mannes. „Ich trage bei der Arbeit immer eine Lüsterjoppe und hänge meinen Rock draußen ins Vorzimmer. Das tat ich auch heute, als ich von der Kasse zurückkam.“

      „Ich weiß“, nickt Valvert gnädig. „Monsieur Pollin hat mich bereits über die Einzelheiten informiert. Sie sind seit zwei Jahren als Assistent bei Herrn Pollin beschäftigt und beziehen ein Gehalt von ...“ — wieder ein kurzer Blick in die Papiere — „von 1000 Franken. Wie kommt es, Herr Heitinger, daß Sie heute den fünffachen Betrag an Ihrer Kasse abheben konnten?“

      Henry Heitinger zögert mit der Antwort und wirft einen hilfesuchenden Blick zu seinem Chef hinüber. „Es handelt sich nicht um das Salär“, beeilt sich Monsieur Pollin zu erklären, „Herr Heitinger hat eine Erfindung gemacht, für die ich ihm den Betrag von 5000 Franken als Vorschuß zur Verfügung stellte. Das heißt ... Herr Heitinger ist noch dabei, die praktische Verwertbarkeit seiner Erfindung auszuprobieren.“

      „Oh! Eine Erfindung auf optischem Gebiet?“

      „Ja, es handelt sich um ein neues Objektiv, das ...“

      Freeman grunzt ärgerlich. „Tut wohl nichts zur Sache, die Erfindung, meine ich.“

      „Ich verstehe. Geschäftsgeheimnis.“ Kommissar Valvert verbeugt sich leicht und ein wenig gekränkt gegen Herrn Pollin und wendet sich wieder der Vernehmung zu.

      „Wie mir Ihr Chef gesagt hat, ist der kleine Vorraum, in dem sich die Kleiderablage befindet, zwar jedem Angestellten zugängig, doch kann niemand aus den Ateliers oder Büros in den Raum gelangen, ohne das Sekretariat zu durchschreiten, in dem zwei Damen sitzen. Wie waren doch die Namen?“

      „Frau Grimmaud und Fräulein Friebel.“

      „Ganz recht. Die beiden Damen bezeugen übereinstimmend, daß in der fraglichen Zeit niemand ihr Zimmer betreten hat. Bien. Es konnte also niemand, ohne von den Damen bemerkt zu werden, an Ihre Garderobe gelangen, Herr Heitinger. Ausgenommen natürlich die Damen selbst. Trauen Sie einer derselben den Diebstahl zu?“

      „Nein, Herr Kommissar.“ Die Antwort kommt fest und sicher. Valvert macht eine liebenswürdige Handbewegung, die seine Achtung andeuten soll.

      „Das macht Ihrer Ritterlichkeit und Kollegialität Ehre, Herr Heitinger. Ich aber bin Polizeibeamter, nicht wahr, und die Gerechtigkeit darf auch nicht vor einer Dame haltmachen. Die Vernehmung hat ergeben, daß Frau Grimmaud den ganzen Vormittag über das Sekretariat überhaupt nicht verlassen hat, Fräulein Friebel nur einmal auf kurze Zeit.“

      „Herr Kommissar“, fällt Heitinger merklich erregt ein. „Fräulein Friebel kommt bei der peinlichen Angelegenheit unter keinen Umständen in Frage. Es ist völlig ausgeschlossen, daß sie etwas mit dem Diebstahl zu tun hat!“

      „Hm. Ich habe die Dame auch keineswegs verdächtigt, Herr Heitinger. Sie kennen Fräulein Friebel schon länger?“

      „Ja, mein Herr. Wir wohnen zusammen. Das heißt ... wir haben zwei benachbarte Zimmer bei Madame Dupont, Rue de la Gaité 79.“

      Kommissar Valvert geht verstehend über die Angelegenheit hinweg. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß zwei junge Leute, die miteinander befreundet und dazu noch Kollegen sind, auf dem Montparnasse einen gemeinsamen Haushalt führen.

      „Wer wußte davon, daß Sie heute einen größeren Betrag bei der Kasse abhoben, Herr Heitinger?“

      „Nur Monsieur Pollin. Und der Kassierer natürlich.“

      Der Name des Fräulein Friebel liegt dem Kommissar auf der Zunge, aber er unterdrückt ihn höflich. „Sonst niemand?“

      „Nein. Sonst niemand.“

      Valvert neigt den Kopf. „Dann danke ich Ihnen, Herr Heitinger. Seien Sie versichert, wir werden unser möglichstes tun, die Sache aufzuklären und Ihnen zu Ihrem Eigentum zu verhelfen.“

      Henry Heitinger verbeugt sich. „Es ... es wäre mir allerdings sehr lieb, Herr Kommissar. Der Verlust bedeutet für mich einen schweren Schlag. Sonst hätte ich den Diebstahl Herrn Pollin gar nicht gemeldet.“

      Als der junge Mann das Zimmer verlassen hat, zündet der Kommissar sich eine Zigarette an und wiegt den Kopf. „Wie ist das, Herr Pollin, hat Herr Heitinger einen Anspruch auf Ersatz seitens Ihrer Firma?“

      Pollin schüttelt erstaunt den Kopf. „Nein, das nicht. Es ist für mich natürlich überaus peinlich, daß dergleichen in meinem Betrieb vorgekommen ist, und ich lege großen Wert darauf, daß die Sache aufgeklärt und der Schuldige gefunden wird. Sonst aber ... Herr Heitinger hat den Betrag gegen Quittung von der Kasse erhalten. Von diesem Augenblick an haftet meine Firma natürlich rechtlich nicht mehr für das Geld.“

      „Ein fingierter Diebstahl scheidet also aus“, nickt der Kommissar. „Heitinger hätte keinen Vorteil davon, einen solchen vorzutäuschen. Darf ich bitten, Herr Pollin. Wollen Sie noch einmal Fräulein Friebel herbemühen!“

      Zwei Minuten nach dem Klingelzeichen Pollins öffnet sich die Tür, und ein junges Mädchen, den Stenogrammblock in der Hand, tritt ein. Ihr Kleid, einfach, aber mit Geschmack gewählt, umschließt eine schlanke, feste Figur. Ihr Gesicht zeigt klare, feine Linien. Über der hohen, sonngebräunten Stirn ringelt sich eine Flut von hellem Blondhaar. Zwei große, rehbraune Augen sind ruhig fragend auf die Herren gerichtet.

      Kommissar Valvert kann nicht umhin, seine schönheitsfreudigen Augen rasch und anerkennend über die Gestalt gleiten zu lassen, von den schmalen Fußgelenken aufwärts über die schlanken Hüften, die edelgeformte junge Brust bis zu dem verhaltenen, bei aller Schönheit Kraft und Willensstärke verratenden Gesicht. Ohne Zweifel eine Schönheit! Wenn man die kleine Sekretärin in entsprechende Kleider steckte, sie würde Furore machen in den ersten Salons von Paris. Sonderbar, daß eine junge Dame mit dem Gesicht und der Figur hier als unscheinbare Sekretärin arbeitet, statt in irgendeinem großen Modesalon die erste Geige zu spielen oder an der Seite eines eleganten Roués in einem schnittigen Wagen durch das Bois zu fahren. Herr Valvert legt unwillkürlich die Zigarette auf den Aschenbecher.

      „Sie wissen, um was es sich handelt, Mademoiselle. Ich habe vorhin das Vergnügen gehabt, mit Ihnen über die Sache ein wenig zu plaudern. Zu meinem Bedauern nötigt mich mein Amt nun doch, eine kleine Vernehmung auszuüben.“

      „Bitte, Herr Kommissar.“ Fräulein Friebel neigt

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