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Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов
Читать онлайн.Название Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren
Год выпуска 0
isbn 9783706561136
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Erfahrungsorientierte Bildungsforschung
Издательство Bookwire
Maurice Merleau-Ponty behandelt die hier fungierende Unbestimmtheit als ein positives Phänomen. Daraus folgt, dass propositionale Aussagen, die nach wahr und falsch beurteilt werden können, hier an ihre Grenze stoßen und schwache Formen des Wissens in den Vordergrund treten. Es gibt, um es mit Wolfgang Wieland zu sagen, ein „emotionales Apriori“ des Verstehens (vgl. Hogrebe 2009, S. 90), das in der Vignettenforschung nicht zugunsten objektiver Erkenntnisse ausgeklammert wird. Aus dieser Perspektive stellen die Vignetten kein defizitäres Forschungsprogramm dar, sondern sie vertreten vielmehr einen sehr anspruchsvollen Versuch, mit größter Prägnanz sinnliche Wahrnehmungen und eine expressive Leiblichkeit sprachlich wiederzugeben in dem kritischen Wissen, dass Sprache hier andere Ergebnisse als wahrheitsfähige Aussagen zu suchen hat und damit an Poesie rührt, was geradezu unvermeidlich den Verdacht an Unwissenschaftlichkeit hervorruft. Das musste auch Merleau-Ponty erfahren. Émile Bréhier wirft ihm etwa vor: „Ich sehe, dass Ihre Vorstellungen sich eher durch den Roman oder die Malerei als durch die Philosophie ausdrücken lassen. Ihre Philosophie führt zum Roman.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 59 f.) Dieser Vorwurf verunsichert Merleau-Ponty indessen nicht, im Gegenteil: Nach ihm ist Philosophie wie die Kunst: „nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern […] Realisierung von Wahrheit“ (Merleau-Ponty 1966, S. 17). Zu fragen wäre deshalb, ob eine Konzeption, die sich gegen die „intellektuelle Besitznahme“ wehrt, gegen die Verwandlung der gelebten Welt in eine gedachte, nicht eine andere Sprache braucht mit einer eigenen Art von Genauigkeit, nämlich einer „ästhetischen Prägnanz“, die Gottfried Gabriel von der logischen Präzision unterscheidet. (Vgl. Gabriel 2019, S. 11 ff.) Sprachbilder stellen in dieser Hinsicht Erkenntnisformen dar, die sich von wahrheitsfähigen Aussagen unterscheiden. Propositionales Wissen lässt sich von nicht-propositionalem in drei Punkten differenzieren: 1. handelt es sich um ein Wissen, das in Aussagen festzuhalten und zu prüfen ist. 2. ist es loszulösen von den Trägerinnen und Trägern des Wissens, und 3. ist es schließlich bipolar organisiert, d. h. die Aussagen sind entweder wahr oder falsch. Das nicht-propositionale Wissen meint dagegen Erfahrungen par excellence. Wie für die Erfahrung gibt es für das nicht-propositionale Wissen keine Stellvertretung. Erfahrungen sind nicht wahr oder falsch. (Vgl. Wieland 1982, S. 224 ff.) Schließlich ist nicht-propositionales Wissen nicht unabhängig von den Inhaber*innen. All diese Merkmale des nicht-propositionalen Wissens begründen nicht, dass es als Wissen in Zweifel zu ziehen ist. Es ist eine verstehende Weltzuwendung besonderer Art. Vignetten fungieren dabei im Sinne von Kunstwerken (vgl. Mian 2019, S. 172), welche diese spezifische von der Welt angefachte Haltung artikulieren.
Vignettenforscher*innen fühlen sich in dieser Hinsicht Husserls Parole „Zu den Sachen selbst“ verpflichtet. Mit ihr ist eine eigentümliche Rückkehr zu unserer ursprünglichen Verwicklung mit der Welt bezeichnet, an die das Denken nicht heranreicht, obgleich es erst durch sie ermöglicht wird. Die vorreflexive Verwandtschaft der Menschen mit ihrer Welt ist durch die Möglichkeit zur Distanzierung gebrochen, die eine Beziehung zu den eigenen Verhältnissen und zu den Dingen mit sich bringt. So gesehen, brauchen die Dinge unsere Interventionen, um für uns sein zu können. Umgekehrt sind wir an sie verwiesen, um von ihnen in Anspruch genommen zu werden. Während uns die anderen in einen Dialog verwickeln können, sprechen uns die Dinge zwar an, meinen uns aber nicht. In beiden Zuwendungen fungieren Beziehungen, die als solche Beachtung verlangen.
Hinter dem Vorwurf, nicht-propositionale Aussagen wären weder Philosophie noch gar Wissenschaft, versteckt sich eine bestimmte Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit, deren Alleinvertretungsrecht durch eine Konzeption des szenischen Verstehens in Zweifel zu ziehen ist. Um es in einer der Metaphern der Innsbrucker Vignettenforscher*innen zu formulieren: Vignetten fungieren als „Klangkörper“, die von Resonanzen und Anklängen bevölkert sind, die ein vielstimmiges Echo auf Erfahrungen meinen, deren Fülle in den Grenzen von allzu größer Nähe droht, ihre Fassung zu verlieren, und in allzu großer Abstraktion ihren Reichtum einbüßt. (Vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, S. 31 ff.)
Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die niemals mit sich selbst anfangen. In ihrer Sicht tritt das „Fangen“ in Anfangen in den Vordergrund. Sie sind eingebettet und bestimmt durch Umstände, für die wir selbst nicht einstehen können. Auch für menschliches Lernen gilt diese notorische Verspätung. Wenn wir uns unserem Lernen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen. Lernforschungen profitieren davon, dass das Lernen von anderen durchaus wahrzunehmen ist, weil wir es auf gewisse Weise beglaubigen können. Das etwa von Vignettenforscher*innen Wahrgenommene „gibt etwas preis von der Erfahrung, die der andere im Moment seines Entstehens [etwa eines Bildes] macht, nie aber jene Erfahrung selbst“ (Baum/Kunz 2007, S. 93). Das Bemühen darum, diese Preisgabe aufzufangen und aufzufassen, kann man als „szenisches Verstehen“ bezeichnen. Entscheidend ist dabei, dass jene, die verstehen wollen, mit denen, die verstanden werden sollen, in szenischer, also sozialer, vorreflexiver, leiblich situierter Verbundenheit stehen. Damit gerät eine vortheoretische, „partizipative szenische Einbettung“ (Hogrebe 2009, S. 56) in den Blick, die zwar distanzierte Analysen in Perfektion unmöglich macht, aber gerade deshalb die Einsicht in konkrete, unhintergehbare wie vage Voraussetzungen des Lernens gewährt. „Das Szenische liegt an der Peripherie unserer Wahrnehmung, aber in der Mitte unserer Existenz. Szenen, nicht Objekte sind das Primäre unseres Weltverhältnisses.“ (Buchholz 2019, S. 423)
Die Empirie der Vignettenforschung widmet sich im vorliegenden Material nicht isolierten Daten, die im Nachhinein in einen Zusammenhang gestellt werden. Sie teilt vielmehr typische Aspekte alltäglicher Erfahrung, d. h. sie registriert nicht lediglich das Gegebene, sondern schult eine bestimmte Wahrnehmungssensibilität. Dabei wird unterstellt, dass die Autor*innen Unterrichtsszenen wahrnehmen und nicht nur beobachten. Während Beobachtungen eine distanzierte Weltzuwendung meinen, bleiben Wahrnehmungen engagiert in ihrem Weltkontakt, verstrickt in ein Erfahrungsgewebe, das jeden Anspruch auf einen reinen Blick verdächtig macht. Sie sind sozial geprägt. Immanuel Kant spricht davon, dass wir Erfahrungen von anderen „adoptieren“ (vgl. Scholz 2000, S. 41 ff.) müssen, weil wir ansonsten nur Erkenntnisse über den eigenen Lebensort und die eigene Lebenszeit hätten. Strenggenommen hätten wir noch nicht einmal diese, weil wir schon die Sprache übernehmen müssen, in der wir unsere Erfahrungen artikulieren. Die Glaubensgewissheit, dass wir eine Welt haben, das Gefühl des Wirklichen, die Vertrautheit mit unserer Lebenswelt verdankt sich nicht einer Sammlung wahrer Aussagen. (Vgl. Wieland 1982, S. 230 f.) Sie lässt sich weder an einem absoluten Wissen noch an einer unmittelbaren Gegebenheit messen. Im absoluten Wissen verlören wir unsere Welt, in der Begegnung mit dem Unmittelbaren uns selbst. Den wahrnehmenden Forscherinnen und Forschern wird abverlangt, dass sie in „unausgerichtete[r] Bereitschaft“, gleichsam in „konzentrierte[r] Passivität“ (Anders 2017, S. 117) bei den Lernenden sind.
Im Allgemeinen haben wir keine Probleme, über unsere Wahrnehmungen zu sprechen. Wir können sie wie unsere Erfahrungen tauschen. Wir können Erfahrungen zwar nicht stellvertretend erwerben, wir können sie aber im doppelten Wortsinn teilen. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Weltzuwendung Gemeinsamkeit erzeugt, aber das Wahrgenommene auch aufteilt; denn nicht alles ist für jeden jederzeit zu sehen, zu hören oder auch zu riechen. Hans-Georg Gadamer hebt hervor, dass „Dabeisein […] mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem [meint], das zugleich da ist“ (Gadamer 1972, S. 118). „Zuschauen ist […] eine echte Weise der Teilhabe.“ (Ebd.)2 Das Gemeinsame in der Teilhabe garantiert, dass wir einander erzählen können, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben, ohne dass wir uns fragen, ob wir wirklich dasselbe wahrnehmen. Wir sprechen über Bilder, über eindrucksvolle Landschaften, schwärmen von unserem Lieblingskonzert, freuen uns, wenn andere unser Parfum als angenehm empfinden, und laufen nicht gerne barfuß über spitze Steine, kommen zur Hilfe, weil wir den Schmerz von anderen sehen. Kalter Wind lässt uns frösteln. Die Sonne blendet uns. Die Sirenen, das Feedbackpfeifen und das Kreideschaben auf der Tafel gehen uns buchstäblich auf die Nerven. „Ich werde [zwar] niemals wissen, wie Sie Rot sehen, und Sie werden nie wissen, wie ich es sehe; aber diese Trennung