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und quantifizierbare Datenerhebungen eher wissenschaftliche Anerkennung verdienen als die Kunst des Erzählens, wie sie in Vignetten ihren Ort findet.1 Es stimmt: Daten sollen grundsätzlich unabhängig von denjenigen sein, die sie gesammelt haben. Aber: „Der Mensch, auch der Empiriker, muß ‚seine‘ Welt schon haben, wenn ihm ‚die‘ Welt gesprächig werden soll.“ (Blumenberg 1998, S. 39, Anm.) Vignetten würdigen diese Welthabe, diese Fusion mit der Welt und werden angesichts der Verankerung in unserer Lebenswelt geschrieben und gelesen. Deshalb bewahren sie die Spuren der nichttheoretischen situativen Bedingungen sowie die habituellen Investitionen der Schreiber*innen, auch wenn sie sich strikt auf die Deskription konzentrieren. Sie blicken nicht „hinter“ die Situationen, sondern auf sie. Sie vertiefen sich in die Oberfläche. (Vgl. Buchholz 2019, S. 420) Um es mit Gaston Bachelard zu formulieren: Sie schauen auf die Blume und erklären diese nicht aus dem Dünger. (Vgl. Bachelard 1994, S. 20) Im Wahrnehmen selbst sind Verstehensbereitschaften am Werk, die sich nicht isolieren lassen und von Ordnungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens in Beschlag genommen werden. Diese Konstellationen veranlassen, was überhaupt bemerkt wird und was unbeachtet bleibt. Vignettenschreiber*innen sind aus dieser Perspektive bewegt von einem szenischen Verstehen, das in ganz bestimmte Beziehungen eingebettet ist und dem eine letzte Gestalt versagt bleibt.

      Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt hat, der aber insbesondere durch die Analysen von Wolfram Hogrebe eine erhebliche philosophische Vertiefung erfahren hat, und zwar nicht nur für die Philosophie selbst, sondern auch für solche praktischen Wissenschaften wie die Medizin, die Jurisprudenz, aber eben auch die Erziehungswissenschaft, die er als „szenisch verankerte Bemühungen“ (Hogrebe 2009, S. 99) charakterisiert. In diesen Disziplinen spielt die Urteilskraft, die nicht zu automatisieren und nicht zu delegieren ist, eine entscheidende Rolle. Sie bleibt an die konkrete Situation gebunden. Ihre spezifische Leistung besteht darin, das Besondere unter der Hinsicht eines Allgemeinen zu fassen. Kant unterscheidet zwischen dem bestimmenden und dem reflektierenden Aspekt der Urteilskraft. Im ersten Fall ist die Anwendung von Regeln des Verstandes auf die Situation gemeint, im zweiten wird die komplizierte Lage angesprochen, dass das Allgemeine noch nicht gegeben und allererst aufzuspüren ist. Es wird im Suchen gefunden. Diese Urteilskraft oder dieses Taktgefühl sind nicht unter Regeln zu bringen. Sie zeichnen sich durch ihre Empfänglichkeit für die Fülle der Lebenswirklichkeit aus. Es ist ihnen eigentümlich, dass sie einen Zwischenraum zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit ausfüllen. Hogrebe erinnert immer wieder daran, dass dieses Zwischenreich eine enorme Herausforderung an eine adäquate sprachliche Artikulation bedeutet und dass es ohne Sprachbilder, die sich zwischen Begriffen und sinnlichen Erfahrungen ansiedeln, nicht zu einem angemessenen Ausdruck kommt. Er gibt sogleich in Anlehnung an Stefan George ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Umstand: „Zwischen Fußsohle und Boden sorgt das Szenische für eine Differenz, die der Teppich des Lebens ist.“ (Ebd., S. 100)

      Vignettenschreiber*innen sind sich in diesem Punkt einig. Stellvertretend lasse ich Evi Agostini zu Wort kommen: „Damit sind Vignetten das eindringliche Dokument eines Ringens mit der Sprache, einer manchmal widerborstigen und knotigen Sprache, immer auf der Suche nach einem reicheren und treffenderen Ausdruck, um Lernen in seiner Verwicklung mit der Welt und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu beschreiben.“ (Agostini 2017, S. 27) Hier gleichsam reflexhaft den Verdacht des Subjektivismus vorzubringen, ist voreilig und bleibt in überlieferte Alternativen verstrickt, die im szenischen Verstehen gerade überwunden werden sollen. Mit der Beachtung des szenischen Charakters jeden Verstehens wird wie mit der Rückeroberung des Medialen, das weder nur aktiv noch nur passiv ist, der Versuch unternommen, die Tyrannei dualer Gewohnheiten zu durchbrechen. Es geht nicht um subjektiv oder objektiv, um aktiv oder passiv, um wahr oder falsch. Die Griechen der Klassik kannten in ihrer Grammatik das Medium. Wahrnehmen etwa, das Verb aisthanomai, ist ein Medium, d. h. es liegt zwischen dem bloß Aktiven und dem lediglich Passiven. Damit das Wahrnehmen ein Nehmen vollziehen kann, muss sich ihm etwas geben. Es bezeichnet damit einen Vorgang, bei dem das Subjekt etwas vollbringt, „was sich an ihm vollzieht“ (Benveniste 1974, S. 194). Erwachen ist ein solcher Vollzug, in den jemand involviert ist, ohne die Initiative zu ergreifen. Erwachen ist eine szenische Zuwendung zur Welt, die jeder ausdrücklichen Thematisierung vorausliegt. „Wir finden uns in eine unbestimmte Weltstellung hineingeboren, die dennoch andeutende Kraft hat.“ (Hogrebe 2009, S. 29) Andeutungen sind auf dem Wege zu Bedeutungen. Diese Weise der Weltzuwendung ist deshalb nicht frei von jedem Verstehen, sondern ein Ahnen, Mutmaßen und Fühlen, frei von Begriffen und doch nicht ohne Sinn. „Was immer Menschen sind, sie sind in ihren Kontexten so verankert, daß sie sich weitgehend aus eben diesen verstehen. Da diese Verankerung in geteilten Lebenswirklichkeiten zumindest partiell auch außen sichtbar ist, werden Menschen von ihresgleichen auch aus diesen Kontexten verstanden.“ (Ebd., S. 18) Damit ist ein wesentlicher Grundzug von Vignetten genannt. Nicht-Wissen bedeutet für sie keine Unkenntnis, „sondern die schwierige Leistung des Überwindens der Kenntnis“ (Bachelard 1994, S. 22). Was man zu kennen meint, will man nicht kennen lernen. Jacqueline Baum und Ruth Kurz, die in ihren Untersuchungen den kleinen Lou vom 13. bis zum 18. Monat beim Kritzeln auf einem Tafelfeld, das auf dem Boden liegt, begleiten und in Videoaufnahmen festhalten, markieren die zentrale Schwierigkeit der Transkription von konkreten Wahrnehmungssituationen: „Das verlangt eine Haltung, die nicht von vornherein verstehen will, sondern sich dem überlässt, was sichtbar wird.“ (Baum/Kunz 2007, S. 20) Diese Erfahrung können Vignettenschreiber*innen vermutlich teilen. Um sich vom anderen überraschen lassen zu können, muss man die eigenen Wahrnehmungsneigungen und -erwartungen unter Verdacht stellen, vor allem den Versuch unternehmen, darauf zu verzichten, von sich auf andere zu schließen. Wir neigen nämlich im Alltäglichen dazu, unsere Sicht der Dinge normativ zu verallgemeinern. Dadurch geraten wir in die Gefahr, blind zu werden für die Abweichungen. Diese zeigen sich in den Handlungskontexten, wenn man situationssensibel die kleinen Zeichen wahrnimmt: die Choreografie der Blicke, die unreflektierten Berührungen, das Spiel der Hände, den Umgang mit den Dingen, Kontaktaufnahmen und -verweigerungen, Tonlagen, Stimmungen. Vignettenforscher*innen setzen sich damit Bedingungen aus, die niemals vollständig auf den Begriff zu bringen sind. Sie stellen sich „einer mit Händen zu greifenden Wucht des Gegebenen“ (Gehring 2011, S. 31). Im Hinblick auf sinnliche Wahrnehmungen bedeutet das: Etwas wird in dem Sinne empfunden, zu dem das Bemerkte herausfordert. Etwas kann uns abstoßen, ansprechen, fesseln, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir sind eingenommen, ohne unbedingt voreingenommen zu sein. Mit dieser Entmachtung eines bloß objektivierenden Zugriffs ist nicht ausgeschlossen, dass aufgrund von unerwarteten Widerfahrnissen das Ziel des Weges nicht erreicht wird. Damit ist eine Möglichkeit offengehalten, auch die pathische Struktur mitzuberücksichtigen, die vornehmlich darin besteht, etwas zu vollbringen, was man nicht selbst in Gang gesetzt hat. Im Pathos wird man von einem Widerfahrnis getroffen, das jedem spontanen Akt zuvorkommt. Hier meldet sich eine gewisse Auslieferung des Menschen an seine Welt, die auch ein Erleiden meint (vgl. Busch 2017, S. 52), das er nicht ohne Rest in Beherrschung umwandeln kann. Diese Auslieferung bedeutet nur im Grenzfall vollständige Ohnmacht oder Besessenheit. Denn während wir das, dem wir ausgesetzt sind, nicht erfinden können, bleibt unserer Antwort auf diesen Anspruch ein gewisser Spielraum. (Vgl. Waldenfels 2008, S. 81) Auch die vielgerühmte Rationalität des Menschen nährt sich aus Energien, die von ihr selbst nicht durchschaut werden. Szenisches Verstehen ist nicht ohne Widerfahrnisse möglich. Empfindungen haben dabei eine „situationsaufschließende“ (Hogrebe 2009, S. 30) Funktion. Vignetten können für diese Dimensionen des menschlichen Lernens sensibilisieren, die sich nicht operationalisieren lassen. In ihnen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass mit jedem Lernen mitgelernt wird, wie gelehrt wurde. Wer beispielsweise insbesondere im behavioristischen Stil unterrichtet wird, lernt vor allem zu gehorchen.

      „Szenen sind das Primäre für unsere Weltwahrnehmung, nicht die Objekte der Welt oder ihr Mobiliar, […].“ (Ebd., S. 50) Als Szenen appellieren Vignetten auch an unsere soziale Empfindsamkeit. Schreiber*innen von Vignetten streben keine Tatsachenfeststellungen an. Sie wollen überhaupt nichts feststellen. Sie wollen erzählen und auch das in einem besonderen Sinn; denn sie referieren oder berichten nicht, sondern sie bringen ihre situativ gebundenen Erfahrungen zum Ausdruck und wollen diejenigen, die später die Vignetten lesen, miterfahren lassen. Erzählungen

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