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Chandra Muzaffar war diese Tat so ungeheuerlich und verwerflich, daß er wie gelähmt sitzenblieb. Mit blicklosen Augen starrte er dem Brettchen nach, das schaukelnd im Wasser trieb und immer kleiner wurde. Die Nadel versank im Wasser und würde nie wieder zu finden sein.

      Chandra wurde kalkweiß im Gesicht. Dann wechselte seine Farbe zu hektischer Röte, und ein wildes Blitzen trat in seine Augen.

      Mit einem wilden Satz sprang er auf.

      „Du Frevler!“ schrie er. „Was hast du getan?“

      Er holte aus und schlug Malindi die Faust auf die Nase. Das Boot schaukelte dabei so stark, daß sie beide fast über Bord gegangen wären.

      Malindi ließ die Pinne los und schlug sofort zurück. Seine Nase fing zu bluten an, und als Chandra rückwärts über die Ducht fiel, war er mit einem Satz bei ihm und hielt ihm das dünne Messer an die Kehle.

      „Du wirst es nicht noch mal wagen, mich zu schlagen!“ rief er. „Ich schneide dir den Hals durch, du Hundesohn!“

      Mit der Messerspitze drückte er so hart zu, daß sich Blutstropfen an Chandras Hals zeigten.

      Er lag unter ihm und wagte kaum zu atmen, denn er kannte Malindi und wußte, daß er jähzornig und unberechenbar war.

      Inzwischen trieb das Boot steuerlos vor der Küste und schoß in den Wind.

      „Ich sage es dir zum letztenmal, Chandra“, sagte Malindi heiser und mit vor Wut entstellter Stimme. „Der große Subedar wird gar nichts tun, er wird nicht mal etwas wissen oder ahnen. Er hat uns betrogen. Bei Wischnu und allen Göttern, ich steche dich ab, wenn du nicht endlich Vernunft annimmst.“

      „Laß mich los“, flüsterte Chandra. „Wir müssen vernünftig sein, sonst schaffen wir es nie, den Weisheitszahn zu holen. Einer allein bringt das nicht fertig.“

      „Na gut, aber versuche nie wieder, mich anzufassen. Du wirst sehen, daß ich recht habe.“

      Er ließ Chandra aufstehen, der sich heftig atmend auf die Ducht setzte und ihn tückisch anblickte.

      Von da an herrschte offener Haß zwischen ihnen, und sie redeten kaum noch ein Wort, wie es schon einmal der Fall gewesen war.

      Den Weg an der Küste fanden sie auch ohne die Nadel, und Malindi traute sich zu, auch den Rückweg allein zu finden. Für ihn war der magische Bann der Wundernadel gebrochen, und einen Tag später, als sie beim Essen waren, sagte er es Chandra.

      „Der große Subedar scheint nichts gemerkt zu haben. Sein Geist ruht jetzt irgendwo auf dem Meeresgrund. Aber er hat nichts unternommen. Er hockt wahrscheinlich vor seiner Hütte und hat von allem keine Ahnung. Es war ein Betrug, weil er Angst hat, wir würden …“

      „Was würden wir?“

      „Ach nichts“, sagte Malindi schnell. „Jedenfalls kann er uns weder sehen noch hören.“

      „Er wird sich rächen, und er wird es merken.“

      „Pah! Sein Zauber ist erloschen. Er ist nichts weiter als ein alter, mißtrauischer Mann.“

      Chandra gab keine Antwort. Aber er sah Malindi sehr aufmerksam an. In dessen Kopf ging etwas vor, aus dem er noch nicht schlau wurde. Sollte Malindi etwas beabsichtigen, die heilige Reliquie zu stehlen und für sich zu behalten?

      Nein, dachte er. Dieser Gedanke war so ungeheuerlich, daß er ihn erst gar nicht weiterdenken wollte. Das wäre ja Betrug an einem ganzen Volk, und das würde Malindi nie wagen. Er hätte dann auf der ganzen Welt keinen ruhigen Augenblick mehr. Die Singhalesen, die die Reliquie von den eigenen Glaubensbrüdern stahlen, würden ihn jagen und in jedem Winkel Indiens aufstöbern.

      Ohne das Auge Subedars fühlte sich Chandra hilflos. Er vermißte es wie einen guten Freund, und er war auf Malindi nicht mehr gut zu sprechen. Das lag auch vor allem daran, daß Malindi immer dann unverschämt und hinterhältig grinste, sobald Chandras Blick auf die jetzt leere Ausbuchtung in der Ducht fiel. Er hätte etwas darum gegeben, seine Gedanken lesen zu können.

      Malindi hingegen fühlte sich jetzt erst richtig wohl, seit die merkwürdige Nadel im Meer versunken war. Es gab niemanden mehr – wenn das überhaupt je der Fall gewesen war –, der ihn beobachten oder belauschen konnte. Er hatte seine Gedanken jetzt ganz für sich allein, und er brauchte sich nicht mehr vor sich selbst zu verstecken.

      Er hatte Freunde und eine ganze Clique in der Nähe von Tuticorin, die nur darauf brannten, den Weisheitszahn einmal berühren zu dürfen, um die ewige Glücksseligkeit zu erlangen. Sie alle würden reich und glücklich werden, aber er, Malindi, natürlich am meisten.

      So motiviert, ging er über Leichen, und er würde auch nicht davor zurückscheuen, Chandra bei passender Gelegenheit verschwinden zu lassen. Doch vorerst brauchte er ihn noch.

      Einer der nächsten Tage brachte dann die Erlösung von dem gegenseitigen Anöden in dem kleinen Boot. Sie hatten kaum noch miteinander gesprochen und sich schweigend gegenseitig abgelöst, wenn die Zeit dran war, die Pinne zu übernehmen.

      Ein Flüßchen tauchte auf, das seine silberhellen und glasklaren Fluten ins Meer ergoß. Das Flüßchen war der Maha Oya, der irgendwo im bergigen Dschungel inmitten der Insel entsprang.

      Hinter dem Maha Oya lag Negombo. Sie sahen das Dorf nur aus der Ferne und sehr undeutlich.

      Malindi grinste wieder und hielt auf die Küste zu.

      „Den ersten Teil haben wir geschafft, jetzt folgt der zweite, der anstrengende Marsch nach Kandy.“

      „Ohne die magische Nadel wird es schwierig. Hättest du sie nicht ins Meer geworfen, dann …“

      „Hör auf, es geht auch ohne sie. Ich weiß, daß wir immer nach Osten marschieren müssen, in die Berge hinauf, durch den Regenwald und die Tiefebene. Ich habe ja die Karte, wenn wir nicht mehr weiterwissen.“

      Chandra gab keine Antwort. Malindi wußte ja doch alles besser.

      Die Küste bestand aus einem wilden Mangrovensumpf, über dem heiß und stickig die Luft stand. Sie roch abgestanden und modrig. Eine Lagune schloß sich der anderen an, die hohen Stelzwurzeln waren so ineinandergeflochten, daß ein Durchkommen unmöglich schien.

      „Hier gelangen wir nie durch“, sagte Chandra. „Wir bleiben im Sumpf stecken und werden von den Wurzeln erwürgt.“

      Ein Schwarm Vögel flatterte kreischend auf und erhob sich in die brütend heiße Luft. Das Fischerdorf Negombo – ein größerer Ort – war von hier aus nicht mehr zu sehen.

      „Wir folgen zuerst dem Fluß“, sagte Malindi Rama.

      Sie mußten jetzt etwas härter pullen. Der Fluß war eine fast vom Dschungel zugewucherte Rinne. Einmal sprang er über ein paar Felsen, dann verlor er sich wieder im grünlichen Schimmer des Regenwaldes.

      Hinter ihnen blieben die stickigen Lagunen mit ihren Stechmücken zurück.

      Bis zu den Felsen konnten sie pullen. Von da ab ging es nicht mehr weiter, und ihnen stand der beschwerliche Marsch bevor.

      Dort, wo der Fluß über Felsen sprang, verließen sie das Boot. Malindi kroch durch einen fast dichten Wasservorhang. Steine und riesige Farne hingen über und boten ein vorzügliches Versteck.

      „Dort verbergen wir es“, sagte er. „Niemand wird es finden, auch die Leute von Negombo nicht, falls sie hier am Fluß fischen.“

      Sie schoben das Boot unter die üppige Vegetation, zogen es auf eine kleine Felsplatte und sicherten es zusätzlich an einem überkragenden Stein, um den sie mehrmals die Leine schlangen und verknoteten.

      Vor ihnen rauschte das Wasser. Der Schleier war so dicht, daß sie die darunterliegende Landschaft nur undeutlich als grünlichen Schemen wahrnahmen.

      Sie packten das zusammen, was sie tragen konnten. Proviant mußte der Regenwald liefern. Um Trinkwasser brauchten sie sich nicht zu sorgen. Entweder sie entnahmen es dem Fluß, oder sie warteten auf Regen, der

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