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Die brüteten auch bei Tag, bei Sonnenschein und blauem Himmel dort über den Dampfmühlen und Zuckersiedereien, den haushohen, runden weissen Petroleumtanks, den eine ganze Stadt für sich bildenden Hunderten von Getreideschuppen, unter denen auch die Firma Sandbauer und Sohn ihre ausgedehnten Grundstücke besass. Das da drüben war eine Welt für sich. Nur wer dort Geschäfte hatte, fuhr in den Staub und Lärm, die schmutzigen Proletariergassen des Peressip hinein. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde der Aufenthalt dort und auch unten im Hafen für Gutgekleidete lebensgefährlich. Da suchte, wer konnte, sein Landhaus am Meere auf oder freute sich auf dem Boulevard der Kühlung, die von der See herüberwehte.

      Es war eine wahre Völkerwanderung aus dem Inneren der Stadt nach der Strandpromenade. Um die Judentumulte sorgte man sich nicht mehr viel. Sie waren diesmal unbedeutend. Mochte es draussen, in den letzten Gassen, zu neuen Zusammenrottungen kommen, mochte es vielleicht sogar einmal fern an einer Strassenecke verdächtig wie von einer Gewehrsalve des Militärs knattern — hier auf dem Boulevard drängte sich die geputzte Welt Kopf an Kopf, die Regimentskapelle spielte, die Kellner liefen mit schäumenden Bierseideln und dampfenden Teegläsern, man lachte und plauderte, man lüftete den Hut und beobachtete sich und schob sich ununterbrochen in zwei aneinander vorbeiflutenden Menschenströmen längs des Musik-Kiosks und des Restaurants hin.

      Von dem kleinen Tischchen aus, an dem sie mit ihrem Gatten sass, schaute Lisa Sandbauer gleichgültig und zerstreut in das Gewühl. Sie wusste: fast jeder kannte sie, der zehnte grüsste sie und erzählte später, er habe die schöne Madame Sandbauer und ihren Mann im besten Einvernehmen beisammen gesehen — von überall her trafen sie neugierige Blicke — sie war hier wie zur Schau gestellt — aber es war ihr alles so einerlei — diese Welt so fremd — das zog an ihr wie ein Wandelbild vorbei, hunderte und tausende modisch gekleideter, lächelnder Männer und Frauen, selten einmal ein Farbenflecken des Orients, ein roter Tarbusch, eine weisse kaukasische Lammfellmütze dazwischen — das drehte drüben, am Rondell vor dem Woronzoffschen Palais, wieder um und kam zurück und wandelte weiter bis zum Gebäude der Duma, der Stadtverwaltung, auf der anderen Seite, und kehrte abermals wieder und schwatzte und gestikulierte, und man wusste nicht, waren es dieselben Menschen, waren es andere, die da in einem ewigen Rundgang auftauchten und verschwanden. Es war für Lisa quälend, dem zuzusehen. Wozu bewegte sich dies alles um sie her — wozu diente dieser unermüdliche Kreislauf, hier und überall sonst im Leben? Man kam doch nicht vorwärts — man wurde gestossen und liess sich weiterdrängen und gelangte schliesslich immer wieder da an, von wo man ausgegangen, gerade wie all diese Leute vor ihr. Das alles hatte so gar keinen Zweck und Sinn Und dann fielen ihr wieder die Worte Roloffs ein: das Leben ist Gift und Gegengift zugleich. Man muss nur den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein! — und sie versank noch tiefer in ihre Gedanken.

      Alle Sprachen der Welt schlugen von den Lippen der Vorüberwandelnden an ihr Ohr — Russisch und Polnisch und Hebräisch-Deutsch, das Griechisch und Italienisch der Levante, Yankee-Englisch und Rumänisch, das rauhe, seit einem Jahrhundert bewahrte Schwarzwälder Alemannisch einer Gruppe deutscher Kolonisten aus der Steppe, die Weizen in Odessa verkauft hatten, und das Französisch der eleganten Welt — aber sie hörte nicht darauf. Dies babylonische Gewirr, an das sie doch von Kind auf gewöhnt war, war ihr heute lästig und widerwärtig. Sie wandte sich nach der anderen Seite und schaute auf den Hafen hinab. Der lag nun auch schon im Dunkel der hier im Süden rasch sich nahenden Nacht. Das dumpfe tiefe Pfeifen der Lokomotiven belebte ihn nach wie vor. Überall leuchteten die blauen elektrischen Lichter auf. Dazwischen glitten schnell und geheimnisvoll, scheinbar zwischen den Sternen, die bunten Mastlaternen eines einfahrenden, in der Finsternis unsichtbaren Dampfers.

      Während Lisa in die Ferne blickte, erkannte sie ziemlich weit von ihr an einem Tisch ihren Vater. Der fadenscheinige kleine Ehrenbürger sah sie nicht. Er sass mit einigen Gefährten zusammen, die, wenn sie auch äusserlich nicht so verwahrlost waren wie er, doch etwas Misstrauenerweckendes an sich hatten. Sie teilten alle sein Schicksal. Sie waren auch deklassiert und lebten jetzt, man wusste nicht recht wie. Lisa kannte sie: da war der seit undenklicher Zeit pensionierte, in eine schmutzige Uniform von längst veraltetem Schnitt gekleidete alte Oberst, ein dem Trunk ergebener dicker kurzer Mann, den man allgemein wegen seiner runden Gestalt und seines kupferrot glänzenden Gesichts „Samowartschik“ — das Teekesselchen — nannte; da war der Fürst Dschidschinasi, ein Bummler und Borger ersten Ranges, mager und lang, mit einem schlitzäugigen gelben Tatarengesicht; da war Giuseppe Delfino, ein schöner Graukopf, Sprosse einer der ältesten italienischen Familien der Stadt, der sein ganzes grosses Vermögen im Englischen Klub verspielt und deswegen auch jetzt noch dort geduldet, aber an keinen grünen Tisch mehr zugelassen wurde, seitdem die Karten in seinen Händen eigentümliche Mischungen und Schicksale erlebt hatten; da war . . . Lisa schloss unwillkürlich die Augen. Ihr war, als stäke sie in einem Sumpf und sänke immer tiefer und tiefer hinab.

      Dann sagte sie zu ihrem Mann: „Nächstens, wenn ich Papa draussen am Liman besuche, bringe ich ihm Kleider und Wäsche mit!“ Und Nicolai nickte nur. Er war froh, dass der alte Ehrenbürger nicht zu ihm herüberkam und Tochter und Schwiegersohn durch sein viel zu kurzes, beflecktes Jäckchen, seine ausgefransten Beinkleider und zerrissenen Lackstiefel kompromittierte. Und über Lisa kam wieder das bittere Gefühl, wie sehr sie bei ihrem Mann wegen ihrer Verwandtschaft in der Schuld sei. Und er hatte um sie gefreit zu einer Zeit, wo es schon sehr schlecht um das Orchestriongeschäft ihres Vaters stand — ohne Aussicht auf Mitgift — eher mit der Anwartschaft darauf, die Ihren bald unterstützen zu müssen, wie es jetzt tatsächlich der Fall war.

      Plötzlich zuckte sie unwillkürlich zusammen. Eine Dame rauschte, einen Platz suchend, dicht an ihnen zwischen den Tischen vorüber in dem leichten wiegenden Gang der Polinnen, mit Pariser Eleganz gekleidet, eng geschnürt, obwohl ihre Gestalt an sich schon schmächtig genug in Schultern und Hüften war. Ihr schmales langes Gesicht war weiss gepudert. Ein starker Parfümhauch wehte hinter ihr drein. Sie sprach lebhaft auf Französisch mit dem zu ihrer Rechten hinkenden anatolischen Getreidespekulanten Tedesco, der, das Sandbauersche Ehepaar grüssend, zwei Finger an den Rand seines roten Fess legte. Auch ihr Begleiter links lüftete seinen Panama, ein mittelgrosser gebräunter Mann mit einem Stiernacken und aufgedrehtem schwarzem Schnurrbart.

      Nicolai hatte den Gruss lässig-vertraulich, aber doch etwas verlegen erwidert. Es ärgerte ihn, dass die Yannopoulos — sei es mit oder ohne Absicht — diese Begegnung hier herbeiführten. Lisa tat, als habe sie die drei überhaupt nicht bemerkt. Das konnte er nicht anders erwarten. Aber es verstimmte ihn doch. Er sass finster da. Die schweigende Entfremdung zwischen den beiden Gatten, die schon im Kontor begonnen und den ganzen Abend über bestanden hatte, wuchs immer mehr.

      Endlich gab Nicolai dem Ausdruck, indem er heftig und unvermittelt, wie um ihrer beider Gedanken von dem Schiffsmakler Traklîs Yannopoulo und seiner Frau abzulenken, sagte: „Papa wird schon sehen, was er an diesem Roloff erleben wird. Man kann ein guter Getreidekenner sein — das ist er wirklich! — und auf zehn Schritte Entfernung dem Makler erklären: das ist bester Gutsbesitzerweizen, mit Dampf gedroschen — oder: das ist kein deutscher Kolonistenweizen von einer reinen Tenne, sondern mit gemeinem russischem Bauernweizen voll Spreu und Unrat gemischt — darauf gibt es keinen Vorschuss! — All das kann man Roloff zugestehen — aber von da bis zu dem Entschluss, einem Menschen mit einer solchen Vergangenheit einfach die Geschäfte in die Hand zu legen . . .“

      „Es weiss doch niemand etwas von seiner Vergangenheit!“

      „Doch. Papa hat er es erzählt, gegen das Versprechen, es nie zu verraten!“

      „Nun — und glaubst du, dass Papa etwa einem früheren Raubmörder Prokura geben wird?“

      Nicolai zuckte die Achseln. „Ein Verbrechen hat er natürlich nicht auf dem Gewissen. Das ist klar. Aber es gibt auch Dinge, die das Gesetz nicht bestraft und die doch . . . Darum erachte ich äusserste Vorsicht für geboten. Und darum möchte ich nochmals dringend bitten, ihm nicht zum zweiten Male einen Stuhl anzubieten, wenn er unter dem Vorwand von Geschäften zu mir ins Haus kommen sollte . . .“

      Sie sah ihren Gatten befremdet an. Wieder stieg der Verdacht von vorhin in ihr auf. Da winkte er ihr mit dem Kopf zu: „Lisa — da draussen sind Görwihls!“ Und sie sah in der langsam vorbeiflutenden Menge den Direktor Karl Görwihl, den fröhlichen und bierfeuchten,

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