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seine tiefe Stimme war unverändert ruhig, während er in der Verlesung eines Geschäftsbriefes aus Cherson fortfuhr. Aber Lisa fühlte wieder, wie eine leise Röte des Unmuts ihre Wangen färbte. Sie schämte sich der Kleinlichkeit ihres Gatten. Und das Bild machte sich auch ganz anders, als er es sich gedacht. Wohl stand Roloff vor ihm, aber zugleich schaute er doch auch auf ihn herab . . .

      Nicolai bemerkte die Veränderung ihrer Züge, ein finsterer Schatten glitt über sein Gesicht. Er wandte sich ab und winkte in seiner lässig-herrischen Art: „Genug, Herr Roloff! Diese Sachen in Cherson gehen mich nichts mehr an. Ist sonst noch etwas?“

      „Nicht dass ich wüsste, Herr Sandbauer!“

      „Schön!“ Nicolai stand wieder auf. „Dann arbeiten Sie also von morgen ab selbständig mit meinem Vater weiter. Ich komme nicht mehr und mische mich in nichts. Nun schicken Sie mir bitte noch Herrn Freidkind.“

      „Sehr wohl!“ Roloff ging. Die beiden Gatten tauschten einen kurzen Blick. Aber sie sprachen nichts. Gleich darauf erschien Sruhl Freidkind, der Buchhalter, auf der Schwelle, gespenstig lang und mager, in gebeugter Haltung, auf den schmalen abschüssigen Schultern ein langes hässliches Gesicht mit wunderbar schönen traurigen Augen. Sruhl Freidkind war immer traurig. Er hatte Heimweh nach dem elenden galizischen Judenstädtchen zwischen Tarnopol und Przemysl, wo sein Vater und Grossvater Rabbis und auch er schon Bocher gewesen war, um ein Schriftkundiger zu werden. Aber die Mittel hatten nicht gereicht. Er hatte in die Welt hinaus gemusst, um sein Brot zu verdienen, und ersehnte den Augenblick, wo er genug besass, um wie ein Mönch in seiner Zelle daheim in einem Stübchen zu hausen und den ganzen Tag über dem Talmud zu tüfteln und über den Erklärungen zu grübeln, die vor vielen hundert Jahren ein Kaz ben Salomo oder Gerschom ben Eliesser dazu der Judengemeinde in Worms oder Prag gegeben, und selbst, wenn auch nicht als ein Rabbi, doch als ein Talmid-Chachochim und Bal-Toire, ein gründlicher Gesekeskundiger, dazustehen.

      Nicolai streifte die Asche von seiner Papyros und sagte obenhin, ohne ihn anzuschauen. „Wie vorhin schon im Kontor bekannt gemacht, führt Herr Roloff von morgen ab Prokura. Verständigen Sie sich also bitte bis auf weiteres, was Ihr Rayon betrifft, mit ihm. Ich will mich ein paar Wochen von den Geschäften erholen, ehe die Getreidekampagne beginnt.“

      Der Ahasver ihm gegenüber verzog keine Miene, sondern griff nur mechanisch nach dem Ohr, ob da die Feder auch noch festsässe. Natürlich konnte er sich denken, was vorgefallen. Wenn in einer Firma der Vater à la Hausse, der Sohn à la Baisse disponierte, musste es ja einmal zu einem Krach kommen. Aber er hütete sich wohl, sich den Mund zu verbrennen. Binnen kurzem — das wusste ja jeder im Kontor — war doch Nicolai alleiniger Inhaber des Hauses. So schwieg Sruhl Freidkind und verschwand, da er sah, dass keine weiteren Befehle mehr vorlagen, mit einer ungelenken Verbeugung seines langen Leibes wieder in seinem Drahtverschlag.

      „So, nun bin ich fertig!“ sagte Nicolai. Lisa stand auf. Sie war froh. Das vielgeschäftige, über Länder und Meere ausstrahlende Treiben im Kontor von Sandbauer und Sohn beengte sie heute. Sie hatte — im Gegensatz dazu — immer die trostlose Öde in dem Orchestrionmagazin ihres Vaters vor Augen, wo, nach dem Kraftwort des Gospodin Gaas, seines sibirischen Schwiegersohns, schon jede Fliege ihren Vor- und Zunamen besass. Mehr wie je fühlte sie den Unterschied zwischen dem Reichtum hier und der Armut dort, fühlte sie ihre Abhängigkeit von ihrem Mann.

      Der rief auf dem Korridor mit lauter Stimme: „Mitzenmacher!“ Und Mowsche Mitzenmacher, Nicolais besonderer Günstling und Galopin, der inzwischen mit dem Buchhalter gerechnet, huschte, als habe er schon gewartet, in derselben Sekunde hinter der Türe hervor, lächelte unterwürfig und liess seine ewig unruhigen und neugierigen schwarzen Elsteraugen von dem einen zu der anderen wandern.

      Nicolai sagte ihm rasch etwas, was Lisa nicht ganz verstand. Sie hörte nur, dass von Herrn Yannopoulo die Rede war, den er unbedingt heute abend noch sprechen müsse. Dann fuhr er, zu ihr gewandt, im Hinausgehen fort: „Papa wünscht nicht, dass ich die Firma weiter mit Spekulationen engagiere! Schön! Dann werde ich mir eben mit Yannopoulos Vermittlung ein Privatbureau einrichten. Da kann mir doch wenigstens nicht Herr Roloff bei jedem Schlussschein über die Schulter schauen!“

      Lisa antwortete nichts. Sie verstand ja nichts von diesen Dingen. Er aber hielt das Gespräch bei Roba Roloff fest.

      „Sag einmal!“ begann er finster. „Wie in aller Welt kommt denn dieser Mann auf die Kühnheit, dir einen Besuch zu machen?“

      „Das hat er nicht getan. Er war draussen und suchte dich.“

      „Er hat aber doch, wie er mir sagte, längere Zeit mit dir gesprochen?“

      „Ja — weil ich ihn aufgefordert hatte, Platz zu nehmen.“

      „Und das nahm er an?“

      „Es wäre unhöflich gewesen, wenn er es abgelehnt hätte.“

      „Ja — aber was ist dir denn dabei eingefallen?“ Er schaute finster auf den Schwarm von Kommis, Korrespondentinnen, Lehrlingen und Laufburschen zurück, der sich jetzt nach dem abendlichen Geschäftsschluss aus dem Hause von Sandbauer und Sohn drängte. „Wenn du alle diese Leute da, unsere Angestellten, bei dir empfangen willst, dann wird dein Salon bald eigentümlich genug aussehen.“

      „Du weisst recht gut, dass Herr Roloff etwas anderes ist als diese Leute.“

      „Freilich! Man hat ihn im Hafen aufgelesen!“

      „Eben deswegen!“ Sie sagte das lebhafter als sie wollte. „Ich mochte gerade ihm keinen Hochmut zeigen!“ Und in Erinnerung an das Bild vorhin im Kontor fügte sie hinzu: „Schwer ist es ja wahrhaftig für uns nicht, andere von oben herab zu behandeln! Aber es zeugt kaum vom besten Geschmack!“

      Nicolai blickte stumm und ärgerlich vor sich nieder. Dass er, in seiner Eitelkeit durch den Vater tödlich gekränkt, Eifersucht gegen den Mann empfand, der ihn aus seiner geschäftlichen Stellung verdrängte, das war ihr klar. Aber mit ungläubigem Staunen meinte sie zu fühlen, dass er diese Eifersucht auch auf sie übertrug. Das war ihr so neu, so unwahrscheinlich, dass sie im nächsten Augenblick schon wieder überzeugt war, sie müsse sich geirrt haben. Aber die innere Unruhe blieb . . .

      Die weichlich vornehmen, spitzbärtigen Züge ihres Gatten heiterten sich sofort wieder auf, sowie er sich auf der Strasse und von allen Seiten beobachtet, von Dutzenden von Menschen gegrüsst sah. Dazu war viel zu viel halb unbewusstes Schauspielertum in ihm. Er wollte heute absichtlich an der Seite seiner schönen Frau, gleich nach deren Rückkehr von einer Reise, über die man viel geredet und gelästert, ein glückliches Familienleben zeigen und darum nicht mit ihr am ersten Abend zu Hause bleiben, sondern zunächst in einem vielbesuchten Restaurant speisen und dann auf dem abendlichen Stelldichein von ganz Odessa, auf dem Boulevard, Tee trinken.

      Es sass sich da gut, auf dieser mächtigen Fläche von Asphalt, von Kiespfaden und mit Akazienreihen überdachten Rasenstreifen, hinten die geschlossene Front von Regierungspaläften, Hotels und Häusern des Hochadels, vorn der freie Blick über die Häfen und das weite Meer, zu denen vom Richelieudenkmal aus die gewaltige steinerne Freitreppe hunderte von Fuss hinabführte. Da unten, im Quarantäne- und im praktischen Hafen, im Hafen Platonowsky und Androssowsky, wurde immer noch gearbeitet — die Eisenbahnzüge rollten bis weit in das Reich der Wellen hinaus, zum Ende der Molen, längs des Maften- und Wantengewirrs und der schwarzen Riesenrümpfe der Schiffe dahin, wie kriechende Käfer zogen sich die Karrenreihen, Korn bringend und Kohle holend, mit kleinen Bauernpferden und silbergrauen, weitgehörnten Steppenrindern bespannt, in ununterbrochener Schnur bergauf und bergab; als ein schwärzliches Ameisengerimmel kribbelten Menschen in Massen um die träge qualmenden Dampferkolosse, stiegen reihenweise die Laufplanken hinauf, verschwanden in der geöffneten Unterwelt der Fahrzeuge und kamen schwerbepackt wieder zum Vorschein; im Hafenwasser, auf der anderen Seite der vertauten Frachtboote schwammen Schwärme von Gondern — aber alles war weit, tief unten, winzig, kaum erkennbar in der rasch einfallenden Dämmerung, dem Dunst der Schlote, dem Staub, durch den auch das Geräusch der Arbeit nur gedämpft, verworren heraufdrang, ein dumpfes unaufhörliches Wagenrasseln, das klagende Geheul der Lokomotiven der Lastzüge, das Krächzen und Klirren der Schiffskrane, das helle durchdringende., umsonst Feierabend gebietende Glockenläuten der

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