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haben einen Beweis für das, was Sie behaupten.«

      »Den habe ich, Herr Doktor«, sagte Ole Peters’ Mutter, »auch wenn Sie noch so spotten mögen. John Manners hat es gehört und Wiebke Jans und alle seine Freunde: Sie hat ihn verflucht, meinen Ole. Damit hat sie ihn in den Tod gejagt.«

      Dr. Hagedorn senkte den Strahl der Stablampe zu Boden und löschte sie aus.

      »Seit sie hier ist, hat sie nur Unheil angerichtet«, sagte ein alter Mann, nahm seine Pfeife aus dem Mund und spuckte in weitem Bogen aus, »wer weiß, wie viele sie schon umgebracht hat. Unsere Kutter hat sie verhext und die Kuh von Peer Nyhuus, daß sie sich verkalbt hat. Sie hat den bösen Blick.«

      »Sie soll was erleben, die Hexe!« John Manners hob die geballte Faust, trat drohend auf das Haus zu.

      Dr. Hagedorn wich einen Schritt zurück, stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Haustür. »Nehmt Vernunft an, Leute!« rief er. »Was wollt ihr denn tun? Euch an einem schwachen Mädchen vergreifen?«

      »Geben Sie uns die Hexe ’raus!« forderte John Manners.

      »Nein, das werde ich nicht«, erklärte Dr. Hagedorn mit fester Stimme. »Wenn ihr dem Mädchen ein Leid antun wollt, dann müßt ihr erst mich zusammenschlagen. Versucht es nur, wenn ihr Lust habt. Aber ich sage euch, ihr werdet dafür bestraft werden. Einer wie der andere. Ich habe mir eure Gesichter wohl gemerkt. Und ich werde dafür sorgen, daß ihr ins Zuchthaus kommt, wenn dem Mädchen nur ein Haar gekrümmt wird.«

      Dr. Hagedorns nachdrückliche Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Leute begannen unsicher zu werden, sahen sich an. John Manners steckte die Faust in die Tasche, die Witwe Peters begann leise zu weinen.

      Der junge Arzt stieß nach. »Ihr seid doch vernünftige, anständige Menschen«, sagte er, »warum wollt ihr eure Hände mit einer Gewalttat besudeln? Ihr wollt das Mädchen nicht länger in eurer Gemeinde dulden. Das verstehe ich. Ich verspreche euch, dafür zu sorgen, daß sie fortgeht.«

      »Jetzt gleich«, sagte John Manners, »wir werden warten.«

      »Nein, das geht nicht. Glaubt nicht, ich wollte euch betrügen. Aber ihr Vater ist sehr krank. Schlaganfall. Er kann nicht allein bleiben. Er muß im Krankenauto zum Festland. Das kann frühestens heute nachmittag geschehen. Dann werde ich sie beide holen, Undine Carstens und ihren Vater. Versprecht mir, daß ihr sie bis dahin in Ruhe laßt!«

      Als Dr. Hagedorn gegangen war, hatte Undine sich beeilt, die Haustür zu verriegeln. Dann blieb sie tief atmend stehen, mit dem Rücken zur Tür.

      Sie war noch immer voller Angst.

      Von Dr. Hagedorns Gespräch mit den aufgebrachten Dorfbewohnern hatte sie nur das einzige Wort verstanden: »Mörderin!« Sie hatte es auf Jakobus Schwenzen bezogen, dem sie in Notwehr mit ihrer Stablampe über den Schädel geschlagen hatte. Sie war überzeugt, ihn getötet zu haben. An Ole Peters dachte sie gar nicht mehr. Dr. Hagedorns Versprechen, sie in Sicherheit zu bringen, hatte sie völlig mißverstanden. Sie war überzeugt, daß er sie nur holen wollte, um sie der Polizei auszuliefern.

      Undine Carstens war in ihrem ganzen Leben nicht von der Insel fortgekommen. Aber sie hatte viel gelesen – Bücher, die der Vater entweder selber besaß oder die er vom Pfarrer und vom Lehrer ausgeliehen hatte. Sie war nicht unintelligent, aber da sie nie Gelegenheit gehabt hatte, Erfahrungen zu sammeln, entsprach ihr Weltbild keineswegs der Wirklichkeit. In ihrer Vorstellung war ein Gefängnis ein feuchter, düsterer Kerker, und sie war fest überzeugt, daß sie für ihr vermeintliches Verbrechen mit dem Tode würde büßen müssen.

      Sie zitterte vor Angst. Ihr Instinkt trieb sie zur Flucht, ganz gleich wohin – nur fort. Fort von den Menschen, die sie haßten, die sie einsperren und töten lassen wollten. Der Gedanke an ihren kranken Pflegevater hielt sie zurück. Sie konnte nicht fliehen. Wenn sie ihn allein ließ, mußte er vielleicht sterben. Tief entmutigt, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, stieg sie die Treppe hinauf.

      2

      Jakobus Schwenzen lebte.

      Der Schlag auf den Kopf hatte ihn nur betäubt. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er sich aufgerafft, sein Motorrad neben sich hergeschoben und war in den Deichkrug zurückgekehrt. Aber er hatte die Gaststube nicht betreten, sondern war über die Hintertreppe in sein Zimmer geschlichen.

      Seine Heimlichtuerei hatte einen guten Grund: Er würde es schwer haben, sein Ansehen wiederherzustellen, wenn bekannt wurde, daß es Undine Carstens gelungen war, ihn so wirkungsvoll abzuwehren.

      Erst am nächsten Morgen, als er zum Frühstück in die Gaststube herunterkam, erfuhr er, was in der Nacht geschehen war. Von der Wirtin ließ er sich den Unfall des jungen Ole Peters so genau wie möglich schildern, denn er wußte, daß jede Einzelheit später einmal wichtig für ihn werden konnte. Die beiden waren bei diesem Gespräch völlig unter sich. Frank Ostwald war früh aufgebrochen, um mit der ersten Fähre zum Festland überzusetzen. So konnte Schwenzen die Wirtin mit einigen Proben seiner Hexenkünste für sich einnehmen.

      Undine Carstens verbrachte den Tag mit der Pflege ihres Vaters. Sie kochte ihm eine kräftige Suppe, wusch ihn, bettete ihn um. Dann begann sie, Stube und Kammer aufzuräumen.

      Der alte Mann schlief bald wieder ein. Aber sie fand keine Ruhe. Sorge um ihn und Angst vor dem Kommenden trieben sie umher. Sie packte einen Koffer mit allem Nötigen für den Kranken, richtete sich selber ein kleines Bündel mit Wäsche.

      Dann saß sie lange, die Hände im Schoß gefaltet, in dem großen Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Sie hätte gern gebetet, aber sie wagte es nicht. Wenn sie wirklich eine Hexe war, wie die anderen sagten, dann hatte Gott sie verworfen. Dann wäre jedes Gebet einer Gotteslästerung gleichgekommen.

      Wie schon so oft in ihrem jungen Leben zergrübelte sie ihren Kopf. Warum war sie anders als die anderen? Warum haßten die Leute sie so? Warum schimpften sie sie eine Hexe? Warum hatte sie jetzt noch zur Mörderin werden müssen?

      Aber auch heute fand sie keine Antwort, und ohne es selber zu merken, dämmerte sie schließlich sachte ein. Sie war todmüde, denn sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.

      Als sie erwachte, war es bereits dämmrig geworden. Sie fröstelte, mußte sich erst besinnen, was geschehen war, warum sie nicht in ihrem Bett schlief.

      Dann hörte sie den Schlag gegen die Haustür und begriff, daß es dasselbe Geräusch gewesen war, das sie geweckt hatte.

      Schlaftrunken erhob sie sich, ging, taumelnd vor Müdigkeit, zur Treppe, stieg hinunter. Der dritte Schlag ertönte, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte.

      Sie schob den Riegel zurück, stieß die Tür auf – niemand.

      Verdutzt rieb sie sich die Augen, trat einen Schritt vor, spähte nach allen Seiten. Einsam lagen die Dünen.

      Sie drehte sich um und wollte wieder ins Haus zurück – da erblickte sie ihn: Jakobus Schwenzen.

      Sein hageres Gesicht war geisterhaft blaß im Dämmerlicht.

      Sie schrie auf, überzeugt, einen Toten vor sich zu sehen – den Mann, den sie ermordet hatte.

      Da bewegte sich Jakobus Schwenzen auf sie zu, die Hände wie Klauen erhoben – noch einmal schrie Undine gellend, voll Entsetzen, dann warf sie ihren Körper herum, jagte in die Dünen hinaus, außer sich vor Verzweiflung, halb besinnungslos vor Angst.

      Eine halbe Stunde nach Undines kopflosem Davonrennen hielt der Krankenwagen vor dem alten Leuchtturm.

      Dr. Klaus Hagedorn saß auf dem Vordersitz neben der Krankenschwester. Noch bevor er ausstieg, merkte er, daß die Haustür offenstand, im Leuchtturm brannte kein Licht. Er ahnte nichts Gutes.

      »Bitte, warten Sie noch«, sagte er zu der Schwester, die ihm folgen wollte, und ging allein die steile hölzerne Treppe hinauf.

      Er fand den alten Mann schlafend. Von Undine keine Spur.

      Dr. Hagedorn rief den Fahrer und die Schwester. Gemeinsam suchten sie das

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