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beobachtet. Diese machte jedenfalls, wenn der Vorsitzende »natürlich« sagte, einen kleinen Strich. Wenn er »einfach« sagte, einen Punkt. Wenn sie fünf Striche oder Punkte gemacht hatte, verband sie sie durch eine Gerade und vollendete ein weiteres Kreuz. Nun schwebte die Bleistiftspitze in der Luft, und Lízinka wartete, wann sie aufsetzen würde.

      Aber der Vorsitzende der Kommission schaute auf ihre schmächtigen Ellbogen und Knie, auf ihr noch kindliches und gleichsam durchsichtiges Gesichtchen, das in der Flut langer goldener Haare schier unterging, und da spürte er, wie ihn ein jäher Ansturm von Empfindungen und Erinnerungen aus dieser kargen Amtsstube fegte, seiner etablierten Kleider und Gewohnheiten entledigte und gegen den Strom von Funktionen und Sitzungen in die Gefilde naiver Unschuld trieb, und plötzlich hörte er auch die Stimme, die er längst verhallt geglaubt hatte: Die Madonna, sagte seine Mutter wie damals auf dem Wallfahrtshügel, den sie mit der Prozession eben erreicht hatten, knie nieder, Bub, das ist die heilige Jungfrau!

      Er ließ die Hand mit dem Anmeldebogen sinken, obwohl er die vorgeschriebene Quote hätte erfüllen müssen, und wandte sich an die Sekretärin.

      – Geben Sie mir, sagte er, den Ordner PST!

      Die knochige Person riß den Blick von den Kreuzchen los und sah Lízinka noch einmal an, diesmal verdattert. Sie kannte ihren Chef und begriff nicht, was diese ungewöhnliche Wendung herbeigeführt haben mochte. Unwillig legte sie den Bleistift aus der Hand, ging zum Safe und reichte dem Vorsitzenden die Mappe mit der Aufschrift Papiere streng geheimer natur. Sie enthielt eine Liste spezieller Fachgebiete, die einige zentrale Institutionen ausgeschrieben hatten. Neben jeder Eintragung stand klipp, aber klar definiert, was vom Bewerber erwartet wurde.

      Als Ehrenmann, der seinem Gewissen nur einmal untreu geworden war, als er seinen Gott verleugnen mußte, um dem Staat dienen zu dürfen, gedachte der Vorsitzende auch jetzt nichts Staatsschädigendes zu tun. Beim Durchgehen der Fachgebiete, die sowohl für Knaben als auch für Mädchen ausgeschrieben waren, schied er redlich alles aus, für die es Lízinka an Voraussetzungen, Bildung oder Klassenabstammung mangelte, wie etwa die Gebiete diplomatischer Kurier, Botschafter oder Abgeordneter. Erstmals zögerte er bei Gegenspionage, die gleich drei Schüler angefordert hatte. Noch eine Erinnerung huschte ihm durch den Kopf: an die fragile Greta Garbo in der Rolle der Mata Hari. Der Film riß jedoch, als er merkte, daß er sich schon in der Abteilung Geschlecht m befand. Er blätterte um. Sein Blick fiel geradewegs auf die Charakteristik, die den Teil Geschlecht w abschloß, und damit die gesamte Liste:

      Spez. Fach humanit. Richtg. M. Abit.: Absolv. D. 9 JG. Grundschule (w). – Vertr. Erweckd. – Eign. F. Öff. Auftr. – Phlegm. Natur. – Sehr Angen. Äusseres. Dahinter eine Anmerkung in Klammern, die einzige dieser Art im Ordner PST: (Wie man ihr beim zahnarzt begegnen möchte!)

      Der Vorsitzende blickte wieder auf. Selbst der strengste Richter in seinem Inneren konnte nicht leugnen, daß nichts an Lízinka den Erfordernissen widersprach. Im Gegenteil, er hatte noch nie ein Gesicht gekannt, zu dem er vom Zahnarztsessel aus, wo er schon so viele Qualen erdulden mußte, lieber emporgeblickt hätte. Einmal zur Überzeugung gelangt, im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft zu handeln, entschloß er sich immer sehr rasch.

      – Fräulein, fragte er Lízinka geradeheraus, möchten Sie nicht Vollstreckerin werden?

      – Was ist das? fragte die Mutter, schnell die Fassung wiedererlangend.

      Der Vorsitzende der Berufsberatungskommission vertiefte sich in die Liste.

      – Ein Spezialfach der humanitären Richtung mit Abitur, sagte er nach kurzem Sinnen.

      – Und was für eins in etwa? fragte die Mutter ganz unaggressiv, um das Flämmchen ihrer Hoffnung nicht auszublasen.

      Er bemerkte erst jetzt, daß zu der Annonce ein Postskriptum gehörte: Bew. tel. zw. Gespr. Prof. Wolf 61460!

      – Bewerber, übersetzte er, telefonieren zwecks Gesprächs mit Professor Wolf, siehe Rufnummer. Daraus geht einfach hervor, daß der betreffende Funktionär Ihnen die näheren Einzelheiten mitteilen wird. Ich muß allerdings wissen, ob Sie grundsätzlich einverstanden sind, damit ich Ihnen einen Laufzettel für ihn mitgeben kann. Also dann –

      rief der Vorsitzende ungeduldig aus, da er der Miene seiner Sekretärin allmählich entnahm, daß er seinem Ruf untreu zu werden begann.

      – Gärtnerin, Bäckerin, Mästerin oder ...

      – Unbedingt, schrie Frau Tachecí, unbedingt

      3

      Vollstreckerin!

      – Was ist das? fragte Dr. phil. Tachecí, nachdem seine Frau ihren Bericht abgeschlossen hatte.

      Sie saßen im Wohnzimmer, über die Suppe gebeugt. Lízinka beobachtete die Oberfläche, in der sich ihr Gesicht spiegelte. Tauchte sie den Löffel ein, so runzelte sich das Gesicht wellenförmig, nahm sie den Löffel heraus, zerfloß es zum Rand des Tellers.

      – Was soll es schon sein, sagte Frau Tachecí, ein humanitäres Fach mit Abitur.

      – Was für eins denn ungefähr? fragte Doktor Tachecí ganz unmilitant, um nicht den Brand eines neuen Steites zu entfachen. Er stand auf, ging zum Bücherschrank und begann in einem Wörterbuch zu blättern.

      – Vollstreckerin steht gar nicht da, sagte er nach einer Weile, nur vollstreckbar; Vollstreckbarkeit, w.; Vollstrecker; Vollstreckung; Vollstreckungsbeamter.

      – Dann wird sie eben Gerichtsvollzieherin, sagte Frau Tachecí, um so besser!

      – Die Charakteristik paßt allerdings eher auf ein Animiermädchen, sagte Doktor Tachecí.

      – Lízinka, sagte Frau Tachecí, aufessen, Kindchen, und ins Bett, morgen mußt du zur Schule!

      Kaum hatte die Tochter ihnen den Gutenachtkuß gegeben und hinter sich die Tür geschlossen, sprach die Mutter weiter, diesmal ohne Ausrufe und Tränen, was um so schwerer wog.

      – Das einzige, was du für deine Tochter getan hast, sagte sie, war, daß du vor sechzehn Jahren meine Vertrauensseligkeit ausgenützt und mich in den Klee geworfen hast wie irgendein Dienstmädchen. Ich hatte keine Ahnung, daß ein Mensch mit einem akademischen Grad mir gleich beim erstenmal ein Kind machen würde, und vor allem habe ich geglaubt, er würde sich zumindest seiner annehmen. Aber du –

      fuhr sie immer sachlicher fort, so daß Doktor Tachecí schnell begriff, wie kritisch die Situation war,

      – genierst dich, aufzumucken, wenn dir der Straßenbahnschaffner auf einen Hunderter nicht herausgibt, geschweige denn, ein normales Schmiergeld zu geben, damit deine Tochter die Aufnahmeprüfung besteht. Das einzige, was du mir angeboten hast, als ihre Zukunft in Trümmern lag, war Tee. Und als ich ihr an deiner Stelle eine letzte Chance herausschlug, damit sie nicht Kühe weiden muß, da sagst du mir, ich mache sie zur Hure? Ich –

      sie hob ein wenig die Stimme, wie um einem Einwand zuvorzukommen, den Doktor Tachecí sich erst gar nicht einfallen zu lassen getraute,

      – weiß nicht, was eine Vollstreckerin ist, ich brauche es gar nicht zu wissen, mir genügt, daß sie das Abitur machen wird und anschließend gehen kann, wohin sie will. Und wenn du willst, daß sie dich weiterhin Vater nennt, dann rufst du morgen diesen Wolf an und machst einen Termin mit ihm aus. Und zu diesem Termin nimmst du wie jeder anständige Vater eine Flasche Kognak mit, und wenn er am Telefon Zicken macht, dann zwei, denn falls du das nicht schaffst –

      fügte Frau Tachecí hinzu, und er erblickte verblüfft ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht,

      gehe ich zu ihm und biete ihm alles, was ich zu bieten habe, als Mutter und als

      4

      Frau!

      Am Freitagmorgen hatte Dr. Tachecí kaum hinter seinem Tisch in der Abbreviaturenerfassungsstelle der Akademie der Wissenschaften Platz genommen, als er die Rufnummer 61460 wählte.

      – Ja bitte? sagte der Angerufene.

      –

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