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Die Henkerin. Pavel Kohout
Читать онлайн.Название Die Henkerin
Год выпуска 0
isbn 9788711461372
Автор произведения Pavel Kohout
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der sechste Vorschlag bewies, daß sie ihre Aufgabe nicht wie alte, engstirnige Schulmeister auffaßten, sondern wie fortschrittliche Technokraten. Mit Rücksicht auf den zivilisatorischen Trend beschlossen sie, wenigstens einen Schüler mit Vorbildung auf dem Gebiet Chemie (Gas) – Physik (Starkstrom) aufzunehmen. Hier verfügten sie über keine Beziehungen und gedachten sich demzufolge über Kord an die Berufsberatungskommission zu wenden. Sie setzten sofort einen Text auf, der trotz unerläßlicher Wahrung des Geheimnisses das erforderliche Interesse wecken sollte:
Für spez. Fach humanit. Richtg. M. Abit.: Absolv. D.9.JG. Chem-Phys. Grundschule (m) – Verlässl. U. Energ.-Eign. F. Öff. Auftr.-Gutes Nerv. Syst: Darunter eine Anmerkung in Klammern: (Der den duft von mandeln und verschmortem braten liebt!)
Und damit schienen sie die Inspirationsquelle, die sie monatelang getränkt hatte, bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft zu haben; bei der Definition des letzten Platzes kamen sie nicht über die 7 hinaus. Die Zeiger der elektrischen Uhr an der Ecke hinter dem Panoramafenster beschrieben Kreis um Kreis, aber das leere Papier vor den beiden Männern war eine getreues Abbild ihrer Gehirne. Sie begriffen, daß die Feiertage vorbei waren und sie einen jener unzähligen Wochentage erlebten, an denen die Maler den Pinsel und die Dichter die Feder zerbrechen, weil Gott sie verlassen hat. In einem der Momente, da Schimssa wieder einmal verzweifelt den Blick aufs Flußufer richtete, um – wie ein Ertrinkender nach Luft – nach einem Gedanken zu schnappen erstarrte er.
– Gott, sagte er, Gott, sieh dir das an!
– Gott, wiederholte Wolf seinerseits, wo ist denn das ausgeschlüpft?
Dann wußten sie nichts mehr von Chiffren und Übersichtsplänen, verspürten weder Schöpferfreude noch -qualen, hörten weder das Geschrei der Möwen noch das der Kellner, sie sahen nur das Haar von spezifisch südländischer Provenienz, die unbestrumpften Beine, die nackten Arme, die schwellenden Brüste und vor allem das Dreieck des Schoßes, das selbst durch das bedruckte Gewebe hindurch herausfordernd wirkte. Mit dem Lächeln der Mona Lisa, aber mit dem Schritt einer hungrigen Raubkatze näherte sich ihnen der leibhaftige Frühling, riß ihnen den Panzer des Intellekts herunter und entblößte ihre pure, frohgemute Mannheit, die sie vor lauter Problemen längst vergessen hatten. Der Zölibat hatte das seine getan:
– Die Henkerin! hauchte Wolf unwillkürlich; zum erstenmal nach langjähriger Ehe sehnte er sich nach Hingabe an eine andere als die eigene Frau.
– Die Sieben! stöhnte Schimssa unbeabsichtigt; zum erstenmal nach monatelanger Arbeit sehnte er sich nach all den Schwarzhaarigen, die er je umarmt hatte.
– Wie bitte? riefen beide wie aus einem Munde, als ihnen gleichzeitig der Zusammenhang aufging.
Sie sahen einander scharf und geistesabwesend, triumphierend und fassungslos an wie Männer, die soeben ein altes Gemälde oder einen neuen Kometen entdeckt haben und es sich nicht eingestehen wollen.
– Aber das, flüsterte Schimssa, und diesmal mußte er sich anstrengen, damit seine männlich selbstsichere Stimme nicht versagte, das wäre dann die erste der Welt ...
– Na, und warum nicht? fragte Wolf feierlich, als überreichte er ihr schon Abiturzeugnis und Lehrbrief.
Er verlagerte seinen Schwerpunkt, setzte den rechten Fuß auf und stand endlich in seiner
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Klasse. Er spürte Schimssas ungeduldigen Atem hinter dem Rücken, wollte jedoch den Zauber des Augenblicks nicht zerstören. Er sah sie an, während sie noch immer Lízinka anschauten, ergriffen, erregt oder zumindest verwirrt wie jeder, der sie zum erstenmal erblickte.
František empfand seine Unförmigkeit geradezu physisch und schämte sich für die geflickten Jeans, mit denen er bislang geprahlt hatte. Den Zwillingen ging plötzlich auf, daß vollkommene Ähnlichkeit kein Vorteil ist, sondern ein Nachteil, der sie beide der Individualität beraubte. Albert sackte unter der Last seines Buckels zusammen wie schon lange nicht mehr; er begriff, daß Muskeln zwar Respekt, aber keine Liebe einflößen. Simon war weder mit Intelligenz noch mit Gefühl gesegnet, doch sein animalischer Instinkt sagte ihm, daß er, sofern dies wirklich kein Engel war, etwas ganz Außergewöhnliches vor Augen hatte. Und Richard erkannte sofort nach Gewahrwerden seines Errötens, daß er sich verliebt hatte.
Dann räusperte Schimssa sich zurechtweisend, und alle, einschließlich des Mädchens, schauten zur Tür. Sie erblickten den majestätischen Professor und den sehnigen Dozenten – beide hatten das karminrote Sakko gewählt, um durch das Staatswappen die Bedeutsamkeit des Aktes zu unterstreichen – und dahinter Karli im blauen Kittel des Schwunt, das hübsch eingebundene Klassenbuch in den Händen. Die zukünftigen Schüler beobachteten neugierig die künftigen Lehrer, die die meisten von ihnen nur bei der Aufnahmeprüfung gesehen hatten, und in ihren Augen, den achthabenden und den vertrauensvollen, standen deutlich lesbar die Fragen: Wer seid ihr? Wie werdet ihr sein? Was werdet ihr mit uns machen?
Ein Pedant und Perfektionist von Wolfs Format überließ einen Moment wie diesen natürlich nicht dem Zufall. Er hatte die Eröffnungsrede nicht nur schriftlich fixiert, sondern auch auswendig gelernt, um zu demonstrieren, welche Bedeutung hier selbständigem und spontanem Denken beigemessen werden würde. Da die Einführung in Plan und Chiffren sowie die Wahl des Klassensprechers Schimssa obliegen sollten, konnte er sich auf Grundsätzliches konzentrieren. Mit einigen suggestiven Sätzen, die an Profundität die entsprechenden Passagen de Maistres überboten, gedachte er ein allgemeines Porträt des Mannes zu skizzieren (»aus dessen Rippe«, wie es im Text geistreich hieß und zu Lízinka gesagt werden sollte, »erst heute die Frau erschaffen wurde»), der aus der dunklen Prähistorie in die Menschheitsgeschichte eintritt und hier wie dort ungeachtet seiner oft demütigenden Stellung zum wahren Gebieter (im Text treffend auf die etymologische Verwandtschaft zwischen den Wörtern »Exekution« und »Exekutive« hingewiesen) über menschliches Leben zu werden, da er es als einziger legal nehmen durfte. (Im Text eine großartige Passage über Herrscher, die zu Unrecht als Henker bezeichnet wurden, während ihren Henkern niemals das Prädikat Herrscher zuerkannt worden war.) Dann wollte er zum Metier als solchem übergehen. Um nachzuweisen, daß es sich hierbei mehr um Kunst als um Handwerk handelte und daß eine phantasievoll durchgeführte Vollstreckung auch die Wertschätzung des Kunden erlangt, hatte er die faszinierende Schilderung aus den Memoiren der Familie Sanson betreffs François Robert Damiens aufgenommen, der am 28. März 1757 wegen eines Attentats auf König Ludwig XV. auf dem Grève-Platz hingerichtet worden war.
»Sein Arm wurde auf einem Block derartig festgelegt, daß das Handgelenk über die letzte Planke der Plattform hinausreichte. Gabriel Sanson näherte sich mit der Kohlenpfanne. Als Damiens die bläuliche Flamme sein Fleisch erreichen fühlte, stieß er einen schrecklichen Schrei aus und biß in seine Fesseln. Als er erste Schmerz vorüber war, hob er den Kopf wieder und sah zu, wie seine Hand abbrannte, ohne seinen Schmerz auf eine andere Weise als durch das Knirschen seiner Zähne, die man klappern hörte, kundzugeben. Dieser erste Teil der Strafvollstreckung dauerte drei Minuten. Dann begann der Knecht André Legris Arme, Brust und Schenkel des Delinquenten mit der Zange zu reißen; jedesmal riß dieses fürchterliche Feuereisen ein Stück zuckenden Fleisches heraus, und Legris goß dann in die klaffende Wunde bald kochendes Öl, bald brennendes Harz, bald glühenden Schwefel oder geschmolzenes Blei. Man sah nun etwas, was die Sprache zu beschreiben unfähig ist, was der menschliche Geist kaum fassen kann, etwas Höllisches, was ich nur die Trunkenheit des Schmerzes nennen kann. Damiens, dessen Augen unverhältnismäßig weit aus ihren Höhlen getreten waren, dessen Haare sich sträubten und dessen Lippen sich fest ineinandergebissen hatten, verspottete die Henker, verachtete ihre Torturen und verlangte nach neuen Leiden. Als sein Fleisch unter den glühenden Flüssigkeiten aufzischte, mischte sich seine Stimme mit diesem häßlichen Ton, und diese Stimme, die nichts Menschliches mehr hatte, brüllte: ›Noch mehr! Noch mehr!‹ Und doch waren dies nur die Vorläufer der Hinrichtung. Man erhob Damiens von der Plattform und legte ihn auf ein Gestell, das drei Fuß Höhe hatte und ein Andreaskreuz bildete, dann befestigte man die Ziehstränge eines Pferdes an jedem seiner Glieder. Je ein Knecht hatte die Zügel eines jeden Pferdes ergriffen,