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Die Henkerin. Pavel Kohout
Читать онлайн.Название Die Henkerin
Год выпуска 0
isbn 9788711461372
Автор произведения Pavel Kohout
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als ihm jemand auf die Schulter klopfte, wurde er sich augenblicklich bewußt, daß er vergessen hatte, einen Fahrschein zu lösen. Als sei eben dies der sprichwörtliche Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, erfaßte ihn tiefe Depression. Zu seinem Erstaunen stand hinter ihm aber ein kahlköpfiger, zahnloser Greis in durchgeschwitztem Hemd, einem Kontrolleur völlig unähnlich.
– Verfeihung, fragte er stark mümmelnd, find Fie nicht fufällig der Friedrich?
– Ja, antwortete Wolf verwirrt.
Er hatte sich sofort gefaßt und wollte sich gegen diese Vertraulichkeit verwahren, aber der Gnom verbaute ihm jede Chance.
– Friedrich! rief er aus, und umarmte ihn stürmisch, was treibft du denn die ganfe Feit?
Die anderen Passagiere, halbtot vor Hitze, beachteten sie kaum, aber Wolf kam sich trotzdem vor wie im grellen Scheinwerferlicht einer Bühne. Es deprimierte ihn zusätzlich, daß er außerstande war, diesen Menschen irgendwo einzuordnen. Ein ehemaliger Mitschüler? Ein Kamerad aus seiner Militärzeit?
– Allef in fönfter Ordnung? fragte der Mann und mußte es zweimal wiederholen, bevor Wolf begriff, daß der Konsonant »f« den Reibelaut »s« sowie manch anderen Laut ersetzte.
– Danke, antwortete Wolf vorsichtig, es geht. Und bei dir.
– Ich bin fon in Rente, antwortete der Mann, du nicht?
– Leider, antwortete Wolf ausweichend, fehlt es mir noch an Jahren.
– Wiefo? wunderte sich der Mann. Dir rechnet man ’f doch doppelt, nicht? Oda haben die Feine auch daf fon geftrichen?
– Na ja, antwortete Wolf unbestimmt; er wußte schon, daß der Mann ihn aus der Branche kennen mußte. Ein Aufseher? Den hätte er sich gemerkt. Vielleicht ein Sargträger, die beachtete er kaum.
– Und die Frau Gemahlin? erkundigte er sich, um dem dünnen Eis zu entrinnen.
– Diefe Hure? fragte der Mann, die hab’ ich hinaufgefmiffen! Dafür ift die Flávinka ihrem Vata nachgeraten.
– Wer? fragte Wolf.
– Na, meine Tochta, mümmelte der Mann stolz. Ef hat fwar einige Frierigkeiten gegeben, aba flieflich ift fie doch auf die Uni gekommen.
– Welche Fakultät? fragte Wolf.
– Juf, natürlich! mümmelte der Mann glücklich, während die Straßenbahn kreischend bremste. Fie ift auch fon bei Gericht, vielleicht winken ja glücklichere Feiten!
– Ich muß leider schon aussteigen, sagte Wolf, entschlossen, die zwei noch verbleibenden Stationen lieber zu Fuß zurückzulegen.
– Fade, sagte der Mann bedauernd, wer weif, wann wia unf wiedafehen. Haben fie dir wenigftenf die Fule gegeben?
– Welche Schule? rief Wolf jäh erleuchtet.
– Na, die Ekfekufionffule! rief der Mann, während die Straßenbahn ruckhaft anfuhr.
Im selben Moment schienen seinem kahlen Schädel schwarze, fettige Haare zu entsprießen, ein Raubtiergebiß füllte die eingesunkenen Wangen auf, und zwischen den Lippen, sinnlich wie eh und je, zuckte die eroberungslüsterne Zunge, die so freigebig Liebe und Tod ausgeteilt hatte.
– Willi! rief Wolf, aber der ehemalige Richter hörte ihn nicht mehr.
– Quidquid agis, prudenter agas, sagte der Doktor, als er ihm Black
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Label über die Eiswürfel goß, die laut klirrten, was du beginnst, beginne es klug. Diese Burschen haben ein bißchen übertrieben und zahlreiche unserer Probleme auf dem Gewissen. Wer hat sie gezwungen, Stricke zu bescheren wie Ostereier? Auch hier gilt: Weniger wäre mehr gewesen.
Der Sportler Schimssa war von seinem Wochenendhaus herübergelaufen; von dort waren es knappe zwanzig Kilometer, Puls und Atem hatten wieder normale Werte erlangt.
– Wenn ich bedenke, sagte er leise, da er in ihrer Gesellschaft seine Scheu nie loswurde, was für ein Mannsbild der Richter Willi war, dann werde ich ganz melancholisch. Warum hat man damals nicht auch ihn abfertigen lassen? Wer hat etwas davon, wenn er frei ist wie eine abbruchreife Ruine? Wird die junge Generation noch das gleiche Engagement aufbringen, wenn sie sieht, was der Welt Lohn ist? – Ein zahnloser Richter, sagte der Doktor, während er ihm Grapefruitsaft über die Eissplitter goß, die leise knisterten, ist besser als ein kopfloser. Sollten er und die anderen trotz der allgemeinen Empörung im Staatsinteresse als Beweis dafür verschont werden, daß ius regit aut errant, das heißt, daß das Recht regiert, auch wenn es sich irrt –
fuhr der Doktor fort, während er sich in das Grübchen zwischen rechtem Zeigefinger und Daumen eine Prise frisch gemahlenen Pfeffers und ein wenig Salz streute,
– dann mußte dafür gesorgt werden, daß sie nicht gleich an der erstbesten Laterne hängen bleiben, womit ich auf nichts –
sagte der Doktor rasch mit einem um Entschuldigung bittenden Blick auf Wolf,
– anspiele. Man ging also von der wissenschaftlichen Feststellung aus, daß der hervorstechendste Charakterzug unseres Volkes eine Kombination von Neid und Sentimentalität ist. Das bedeutete, alles abzubauen, was das Niveau der sozial schwachen Schichten übersteigt, also Autos unangemessener Marken oder Mätressen unangemessenen Alters. Dadurch wird das Moment des Neides eliminiert und andererseits wohlwollendes Mitgefühl hervorgerufen, wie es bei uns Stürze –
fuhr der Doktor fort, während er ein bißchen frisch ausgepreßten Zitronensaft auf den Pfeffer und das Salz träufelte,
– aller Art begleitet. Die kosmetische Chirurgie, die normalerweise häßliche Personen in schöne verwandelt, funktioniert hier umgekehrt, um den resultierenden Eindruck zu verstärken. Ich möchte wetten, daß die Glatze Ihres Freundes allwöchentlich vom Friseur erneuert wird und daß er sich die Zähne künstlich herausbrechen ließ; mit der schönen Prothese prunkt er nur in speziellen –
fuhr der Doktor fort, während er mit der linken Hand in ein Gläschen weißen Tequila und in ein zweites roten Sangrita eingoß, – Hoteleinrichtungen, wo ähnlich Betroffenen einoder zweimal pro Jahr die vorenthaltenen Genüsse unter dem Deckmantel eines Kuraufenthaltes ersetzt werden. Übrigens, ist Ihnen die Tatsache nicht Antwort genug, daß sein Amt von seiner eigenen Tochter übernommen wurde? Zum Wohl! –
fügte er hinzu, leckte die Mischung aus Zitrone, Pfeffer und Salz vom Handrücken, trank aus beiden Gläsern und mixte das komplizierte mexikanische Getränk auf der Zunge.
– Aber, wandte Schimssa schüchtern ein, Armut und Verkommenheit, wenn auch künstlich, sind eben doch eine Strafe für Diensteifer. Wird die vom Vater belehrte Tochter nicht Laxheit auf ihr Panier schreiben? Steckt nicht gerade darin des Pudels Kern, warum wir kaum noch eine Arbeitsmöglichkeit haben?
– Das Fräulein Tochter, antwortete der Doktor, noch immer die Geschmacks- und Aromamischung am Gaumen feinschmeckerisch auskostend, soll einstweilen ihr Richteramt ruhig wie eine Kindergärtnerin ausüben, weil von ihr aufgrund der internationalen Lage, die diverse Rücksichten erfordert, niemand etwas verlangt. Sobald sie Anweisung erhält, wird sie mit Knast und Strang nur so um sich werfen, bis der Papa vor Stolz platzt, wenn nicht –
fügte der Doktor hinzu, während er eine Zigarre der Marke ›Winston Churchill‹ anbot, die Wolf dankend annahm und Schimssa dankend ablehnte,
– vor Neid.
Schimssa sprang auf, um mit dem Feuerzeug, das er nur zu diesem Zweck gekauft hatte, zunächst ihm und dann Wolf dienlich zu sein. Dabei erkühnte er sich, zu sagen:
Und falls sie nicht will? Die heutigen jungen Leute quasseln dauernd von Gewissen, und Gewalt darf jetzt nicht einmal für eine gute Sache angewendet werden! Wie soll man sie Mores lehren?
– Ein Russe, sagte der Doktor, anständiger Schriftsteller,