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wie z.B. „Jünger“ Transparenz schaffe, ist textlinguistisch fragwürdig. Denn der jeweilige textuelle Kontext entscheidet, welchen semantischen Gehalt ein Begriff hat und auf welchen Referenten der Begriff bezogen ist. Man darf nicht stattdessen eine pauschale Zuordnung vornehmen, dass der semantische Gehalt eines Begriffs in jedem Kontext derselbe sei. Beim Begriff „Jünger“ sollte man sich also jeweils fragen, ob er einen idealen oder allgemeinen oder einen konkreten „historischen“ Jünger beschreibt. Z.B. ist es in Mt 28,19 offensichtlich, dass von allgemeinen Personen die Rede ist, die durch die Mission der konkreten historischen „elf Jünger“ (28,16) zu „Jüngern“ werden, denn sie stammen aus „allen Völkern“ und sind unbestimmt. Ebenso ist in 12,46-50 ein „idealer“ Jünger gemeint. Deswegen darf man aber nicht schlussfolgern, dass automatisch an allen anderen Jünger-Stellen des MtEv diese allgemeinen Jünger, evtl. inklusive späterer Gemeindechristen, gemeint seien. Eine ähnliche pauschale Übertragung findet sich bei Luz’ Auslegung von Mt 10.23 Seine Argumentation verläuft so: Weil der Begriff „Jünger“ (auch an anderer Stelle) transparent sei, d.h. einen allgemeinen Gemeindechristen adressiere, stehe er im Kontrast zum Begriff „Apostel“. Deswegen wolle Mt keine vergangene Geschichte der Zwölf erzählen, sondern die Gemeinde adressieren. An diese Argumentation lässt sich die kritische Rückfrage richten: bezieht sich der Begriff „Jünger“ in diesem Kontext nicht eindeutig auf die Referenzgröße der Zwölf, die hier „Jünger“ und „Apostel“ genannt werden?24 Auch der Begriffswechsel vom mk „Zwölf“ zum mt „Jünger“ ist für sich allein noch kein Beweis für den Gegenwartsbezug von „Jünger“.25 Ebenso wenig wie ein Begriffswechsel von „Jünger“ zu „Zwölf“ für sich allein (!) ein Beweis für die „Historisierung“ von „Jünger“ wäre. Das gilt auch für die Begriffe „Apostel“,26 „Brüder“ und „Kleine“ oder für das Verb „zu Jüngern machen“. Der Kontext entscheidet, wer jeweils gemeint ist. Der Begriff an sich schafft keine Transparenz.27 Deswegen sollte man zurückhaltend sein mit der Aussage, dass „Jünger“ ein ekklesiologischer terminus sei, selbst wenn sich der Gemeindechrist (normalerweise?) mit den Jesusjüngern identifizieren dürfte. Einerseits belegen die 28 Vorkommen von μαθητής und das einmalige Vorkommen von μαθητεύω in Apg, dass auf diese Weise die „normalen“ Anhänger Jesu bzw. Angehörige der christlichen Gemeinden bezeichnet wurden (wohl in Entsprechung zu μαθητής in LkEv). Andererseits fehlt μαθητής interessanterweise als Bezeichnung der Christen in den Schriften des NT, die auf Apg folgen. Jedenfalls ist festzustellen, dass es keine externen Quellen gibt, die belegen, dass die Leser des MtEv tatsächlich „Jünger“ genannt wurden.

      Zum Zusammenhang zwischen Gesamttext und Einzelpassagen. Das Kontextprinzip, nämlich, dass die Bedeutung und Referenz eines einzelnen Begriffs von der ihn umschließenden Passage abhängen, gilt in gleicher Weise für die einzelne Textpassage und den ihn umschließenden (Gesamt-) Text. Die redaktionskritische Forschung hingegen teilt normalerweise den Gesamttext in einzelne Textpassagen, die wie eine Reihe kleiner Einzelfenster jeweils Blicke auf vereinzelte Aspekte der Gemeindesituation gestatten (diachrone Interpretation).28 Dieses Textverständnis nennt der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich „Text-Metaphorik“.29 Demnach wäre der Text eine Metapher für eine historische Situation.30 Aus der redaktionskritischen Textsegmentierung folgt mindestens zweierlei, wobei der zweite Punkt besonders wichtig ist: Erstens. Gelegentlich werden diese einzelnen Aspekte im nächsten Schritt wieder so zusammengefügt, um eine bestimmte Entwicklung in der Gemeinde nachzuzeichnen. Leider fehlt in den oben besprochenen Veröffentlichungen eine methodische Reflexion über Kriterien, die darüber bestimmen, welche Reihenfolge die Einzelaspekte in der Entwicklung einnehmen. So stellt sich die kritische Rückfrage: Warum soll es in der mt Gemeinde eine Bewegung hin zur Institutionalisierung und Hierarchisierung geben, der der Evangelist ein egalitäres Gemeindeverständnis entgegen stellt?31 Könnte der Text nicht auch eine umgekehrte Bewegungsrichtung beschreiben? Zweitens. Der Text wird in verschiedene Einzelfenster aufgeteilt, um hinter ihnen die soziale (Amts-) Struktur der Gemeinde zu entdecken. Diese Aufteilung machen verschiedene Personenbezeichnungen des MtEv möglich, wie z.B. „Propheten“, „Jünger“, „Schriftgelehrte“. Dann wird z.B. der Begriff „Jünger“ als ein Einzelfenster behandelt, durch das man die mt Gesamtgemeinde sehen könne. Der Begriff „Propheten“ ist dann ein Einzelfenster für ein bestimmtes Amt innerhalb der mt Gesamtgemeinde. Das Problem einer solchen Einzelfenster-Methodik besteht darin, dass womöglich Personen (und Situationen) auseinandergerissen werden, die auf der Textebene zusammengehören, weil sie sich auf dieselbe textuelle Referenzgröße beziehen. Das hängt mit einem etwas grundsätzlicheren Problem zusammen: Wer das Evangelium als ein transparentes Fenster auf die dahinter liegende Gemeindewelt behandelt, steht in der Gefahr die textuelle Ebene zu übersehen.32 Es wäre also methodisch angemessener, im ersten Schritt den Gesamttext in den Blick zu nehmen und die theologische Bedeutung und Funktion eines Aspekts auf der textuellen Ebene zu untersuchen.33 Das bedeutet im Übrigen, dass auf der Textebene alle Textelemente (theologisch) relevant sind. Wendet man dieses Prinzip der synchronen Lektüre auf Personen des MtEv an, resultieren daraus kritische Anfragen an einige Positionen, die vorgestellt wurden. Erstes Beispiel: Beachtet man den kontextuellen Zusammenhang, dann referieren vielleicht die verschiedenen Begriffe aus Mt 13,52 und 23,34 auf die Jünger selbst, und nicht auf spätere voneinander unterschiedene Personengruppen.34 Zweites Beispiel: Gerhard Barth hatte aus 5,17-19 geschlossen, dass der Evangelist eine antinomistische Gruppe innerhalb der Gemeinde bekämpfe.35 Wäre es nicht wahrscheinlicher von 5,20 her zu schlussfolgern, dass gemeindefremde jüdische Schriftgelehrte und Pharisäer den gläubigen Lesern des MtEv unterstellen, Jesus hätte das Gesetz abgeschafft, woraufhin Mt mit 5,17-20 antwortet?36 Drittes Beispiel: Die Begriffe „Prophet“, „Kleinster“, „Gerechter“ und „Jünger“ aus Mt 10 referieren möglicherweise auf die zwölf Apostel (10,1; 11,1).37

      Zur (schiefen) Analogie zwischen irdischer Jesus – auferstandener Christus einerseits und historische Jünger – Gemeindechristen andererseits. Wendet man die Frage nach den sich entsprechenden Personen auf den Spezialfall „Jünger“ an, so begegnet z.B. bei Luz folgendes Argument: die Jünger seien transparent für die Gemeinde, weil ebenso der irdische Jesus und der auferstandene Jesus in einer Kontinuität zueinander stünden.38 Diese Schlussfolgerung basiert auf einer Parallelisierung der Jünger mit Jesus:39 Die Einheit des historischen Jesus und des auferstandenen Christus sei die Grundlage dafür, dass sich auch die nachösterlichen Christen als „Jünger“ bezeichnen könnten, die selbst nicht Jesu historische Jünger gewesen waren. Ein wahrer Christ bzw. Jünger halte sich an die Lehren des irdischen Jesus. M.E. lässt sich aus Mt 28,20 zu Recht ableiten, erstens dass der auferstandene Christus auf eine ähnliche Weise „mit“ den nachösterlichen Rezipienten des MtEv ist, wie zuvor der irdische Jesus „mit“ den historischen Jüngern war. Und zweitens, dass sich die nachösterlichen Rezipienten an den historischen Jesus und seine Gebote halten müssen. Nichtsdestoweniger stellt Luz in seinem Argument eine nicht ganz zutreffende Verbindung beider Personengruppen her. Denn: Einerseits ist Jesu ewige Gegenwart eindeutig im Text ausgesagt, und Christen bzw. spätere „Jünger“ konnten von daher zu Recht ihre unterschiedlichen „Erfahrungen“ auf den erhöhten Christus zurückführen und diese etwa als Begegnung mit ihm deuten. Andererseits – und das ist der entscheidende Punkt – kann allein die Einzelperson Jesus Christus kontinuierlich sein, nicht jedoch der historische Jesusjünger. Vielmehr gibt es wesentliche diskontinuierliche Momente zwischen den historischen Jüngern und der Gemeinde, so dass die Gemeindechristen nicht ohne weiteres die Zeit „überspringen“ und mit den historischen Jüngern „gleichzeitig“ werden konnten, obwohl beide Gruppen sich an den historischen Jesus halten sollten.

      Zu den nicht-transparenten Elementen bei den zwölf Jüngern. Auf der Textebene sind Elemente vorhanden, die eine besondere Funktion der historischen Zwölf beschreiben und deswegen nicht ohne weiteres, keinesfalls in Form einer Eins-zu-Eins-Korrespondenz, auf nachösterliche Gemeindechristen übertragbar sind.40 Einige dieser Elemente werden in den nachfolgenden Kapiteln dieser Arbeit besprochen werden. Man denke z.B. an Mt 10,1-16: an die Namenliste der zwölf Jünger, den „Apostel“-Titel, den partikularistischen Missionsbefehl und die Wundertaten. Es wäre nicht angemessen, zu behaupten, dass alle „einmaligen“ und schwer übertragbaren Elemente der Zwölf verbliebene historische „Reste“ seien, für den

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