Скачать книгу

mit Jugendlichen in Manila, doch leidende Kinder gibt es nicht nur auf den Philippinen, sondern ebenso in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Wien, Zürich und vielen anderen Städten. Wer bereit ist, hinzuschauen, der wird sie sehen. Und wer fühlt, was er sieht …

      Vom Affekt zum Effekt

      Noch sehr viel mehr Menschen wären hier zu nennen. Menschen, die krank sind, einsam, traurig, verzweifelt, traumatisiert, misshandelt, erniedrigt oder verwahrlost. Manche von ihnen sind für ihr Leiden mit verantwortlich, da sie die falschen Entscheidungen getroffen haben – aber wer von uns handelt immer nur weise? Andere wiederum hatten nie eine reelle Chance, ihrem Schicksal zu entfliehen. So unterschiedlich diese Menschen auch sein mögen, so haben sie doch alle eines gemeinsam: Jeder von ihnen begegnet tagtäglich vielen anderen Menschen, denen es besser geht. Die meisten gehen achtlos an ihnen vorüber, doch ab und zu geschieht ein kleines Wunder: Jemand bleibt stehen, nimmt sie wahr, stellt kluge Fragen, hört aufmerksam zu, versucht zu verstehen und mitzufühlen. Und dann tut dieser Jemand einfach das, was getan werden muss, weil ihm das Leid zu Herzen geht.

      Ich bin fest davon überzeugt, dass auch Ihr Leben gesäumt wird von Menschen, die ausgeraubt und blutend am Wegesrand liegen. Das Abenteuer der Barmherzigkeit kann da beginnen, wo Sie Jesus darum bitten, Ihnen ein barmherziges Herz zu schenken. Ein Herz, das die Notleidenden sieht und deren Leid ihm innere Schmerzen verursacht. Aufgrund dieser inneren Schmerzen werden Sie handeln und tun, was gerade dran ist – aus dem Affekt wird ein Effekt. Sie werden einen Besuch machen und ein guter Zuhörer sein. Sie werden in Ihre Geldbörse greifen und einen Schein herausholen. Sie werden Ihren Kleiderschrank durchforsten und sich von einigen guten Stücken trennen. Sie werden Ihre Rollläden hochziehen und Gäste beherbergen. Sie werden Essen kochen, in die Arme nehmen, die Zeit vergessen, Karten schreiben, Anrufe tätigen und vieles mehr – alles aus einem barmherzigen Herzen heraus. Ganz so, wie Jesus selbst es getan hätte.

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

image

      3 |

      »MACH ES GENAUSO« – Was Jesus von uns erwartet

      »Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?«, fragte Jesus. Der Mann erwiderte: »Der, der Mitleid hatte und ihm half.« Jesus antwortete: »Ja. Nun geh und mach es genauso.«

      Lukas 10,36-37

      Wer ist mein Nächster?

      Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter steht nicht im luftleeren Raum, sondern in einem ganz bestimmten Zusammenhang, den uns der Evangelist Lukas schildert:

      Ein Mann, der sich im Gesetz Moses besonders gut auskannte, stand eines Tages auf, um Jesus mit folgender Frage auf die Probe zu stellen: »Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?« 16

      Vermutlich kennen Sie das auch: Bestimmte Fragen stellen wir nicht deshalb, weil wir nach einer Antwort suchen, sondern aus völlig anderen Motiven. Manche Fragen werden gestellt, um Interesse zu heucheln, und andere, um sich eine unangenehme Wahrheit vom Leib zu halten. Bei der Frage des Gesetzeslehrers ging es darum, Jesus auf die Probe zu stellen und seine Rechtgläubigkeit zu testen. Wollte man heute eine Professorin für Theologie oder einen Pfarrer auf ihre Haltung zum Wort Gottes hin prüfen und aufs Glatteis führen, so würde man sie wohl eher danach fragen, wie sie zur biblischen Bewertung der Homosexualität stehen – damals jedoch war dies noch nicht so ein heiß diskutiertes Thema. Stattdessen wird Jesus nach der einen grundlegenden Norm gefragt, mit der sich das gesamte jüdische Gesetz zusammenfassen lässt – nach damaliger Lesart bestehend aus 248 Geboten und 365 Verboten. Eine knifflige und heikle Frage.

      Jesus aber lässt sich nicht in die Ecke dessen drängen, der sich rechtfertigen muss. Stattdessen antwortet er mit einer Gegenfrage: »Was steht darüber im Gesetz Moses? Was liest du dort?« 17 Schließlich ist der Fragende ein Experte, da wird er doch wohl eine Antwort kennen!

      Selbstverständlich kennt der Mann die Antwort, da er sich mit dieser Problemstellung schon länger befasst hat. Er antwortet mit dem Doppelgebot der Liebe (zusammengefasst aus 5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18): »›Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deiner ganzen Kraft und all deinen Gedanken lieben.‹ Und: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹« 18

      »Na also«, sagt Jesus sinngemäß, »warum fragst du mich dann überhaupt, wenn du die Antwort doch längst kennst? Halte dich daran und du wirst leben!« 19

      Auf einmal ist es der Gesetzeslehrer, der sich genötigt fühlt, sich zu rechtfertigen. Helmut Gollwitzer bemerkt dazu treffend:

      Er will sich gegen die Beschämung und Verlegenheit wehren – mehr noch: Er will seine vorherige Überlegenheit retten – mehr noch: Er will sich dem Gericht des Gebotes entziehen, vor dem er als der Nicht-Liebende steht. Er tut das mit einer Frage, die keineswegs aus der Luft gegriffen ist und gegen die nichts zu sagen wäre, wenn sie als echte Frage aus einem bedrängten Herzen käme: »Und wer ist mein Nächster?« 20

      Damals wie heute wurde diese Frage wirklich diskutiert: »Wenn Gott uns zur Nächstenliebe auffordert, wer ist denn dann bitteschön unser Nächster? Gibt es eine Grenze der Nächstenliebe – und falls es sie gibt, wo genau verläuft diese? Wen muss ich lieben und wen nicht?«

      Für das Judentum der damaligen Zeit war klar, dass auf jeden Fall jeder Volksgenosse ein Nächster war, doch schon bei den sogenannten »Proselyten« gab es Uneinigkeit. Das waren Menschen, die nicht als Juden geboren, sondern erst später zum Judentum hinzugekommen waren. Richtig hitzig wurde die Debatte, wenn es darum ging, ob das Gebot der Nächstenliebe auch für den Fremdling und den Feind gelten solle. Hier gab es verschiedene Auslegungen: eine verengende, die einzig im Volksgenossen einen Nächsten sah, und eine erweiterte, die das Gebot der Nächstenliebe auch auf den Fremden und den Feind bezog. Wer aber hatte nun recht und woran sollte man sich halten?

      Aus heutiger Sicht ist es wohl eher die Globalisierung, die uns bei der Frage nach der Nächstenliebe zu schaffen macht. Da unsere Welt immer enger zusammengerückt ist, hören wir nicht mehr nur vom Leiden unseres Nachbarn, sondern auch von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer und verhungernden Kindern im Jemen. Und damit fühlen wir uns oft überfordert, da wir schließlich nicht überall helfen können. Wer also ist heute unser Nächster?

      Vom Objekt zum Subjekt

      Über die Frage, ob denn die Nächstenliebe eine Grenze kennt, ließe sich lange diskutieren – so lange, dass bei den vielen tiefgründigen Gedanken die einfachen Taten in Vergessenheit geraten würden. Es gibt ein Theoretisieren, welches im Grunde nur dazu dient, uns die lästige Praxis zu ersparen. Doch bei Jesus kommt man damit nicht durch, denn »alle intellektuellen Fragen wandeln sich bei Jesus zu existenziellen, alle theoretischen zu praktischen, alle unechten zu echten.« 21

      Das muss nun auch unser Gesetzeslehrer erfahren, denn Jesus fragt ihn: »Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?« 22 Und indem Jesus so fragt, dreht er die Fragestellung (»Wer ist mein Nächster?«) um: Auf einmal geht es nicht mehr darum, welcher der zahlreichen Menschen um mich herum mein Nächster ist, sondern darum, für welchen dieser Menschen ich zum Nächsten werde, weil ich an ihnen vorbeikomme und ihre Not nicht übersehe. Der Begriff des Nächsten wird bei Jesus nicht mehr als Objekt gefasst (einer, den ich mir aussuche), sondern als Subjekt: Nun bin ich der Nächste für den, der meine tatkräftige Hilfe braucht – so ist es gewissermaßen der Notleidende, der mich aussucht, indem er halb tot auf meinem Weg liegt.

      Joachim Jeremias schreibt dazu:

      Der Schriftgelehrte denkt von sich aus, wenn er fragt: Wo ist die Grenze meiner Pflicht (V. 29)? Jesus

Скачать книгу