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Gott, der mir in Jesus begegnet, weil ich durch seine konkrete Hilfe am eigenen Leib und in der eigenen Seele erfahren habe, wie leidenschaftlich er mich liebt.

      Barmherzigkeit hat mir die Liebe Gottes gezeigt!

      Barmherzigkeit hat mir meine Schuld vergeben

      Im Laufe der Jahre musste ich erkennen, dass ich nicht nur das arme Opfer bin: das Opfer meiner Erziehung, meines evangelikalen Umfelds, meiner psychischen Erkrankungen oder der widrigen Umstände in meiner frühen Kindheit. Das alles hat mich ohne jeden Zweifel entscheidend geprägt und beeinflusst, aber dennoch bin ich zugleich auch Täter, denn ich habe in meinem Leben oft gegen meine Erkenntnis und gegen mein Gewissen gehandelt, indem ich die falschen Entscheidungen getroffen habe. Ich wurde nicht nur gelebt, sondern ich habe gelebt – und bin schuldig geworden an den Menschen, die ich doch so sehr liebe: an meiner Frau und meinen Kindern. Hinzu kommt das, was ich ihnen schuldig geblieben bin, weil ich ständig nur mit mir selbst beschäftigt war. Ich trage eine Verantwortung für mein Handeln. Diese Last wog schwer, so schwer, dass ich darunter fast zusammenbrach.

      Mir ist völlig klar, dass ich als Zwangserkrankter oft ein überstrenges Gewissen habe, und dass es nicht nur echte, sondern auch falsche Schuldgefühle gibt. 10 Doch jenseits meiner ungerechtfertigten Selbstzerfleischung bleibt immer noch ein gewaltiger Teil an Schuld in meinem Leben, der sich nicht relativieren und auch nicht wegtherapieren lässt. Und eben unter diesem Teil litt ich. Wieder und wieder schaute ich zurück und musste feststellen, dass ich meine früheren Fehlentscheidungen nicht rückgängig und meine Versäumnisse nicht ungeschehen machen konnte. Was geschehen war, war geschehen. Aber wie konnte ich damit leben?

      König David betete: »Als ich mich weigerte, meine Schuld zu bekennen, war ich schwach und elend, dass ich den ganzen Tag nur noch stöhnte und jammerte. Tag und Nacht bedrückte mich dein Zorn, meine Kraft vertrocknete wie Wasser in der Sommerhitze« (Psalm 32,3-4). Ich verstehe ihn gut, denn auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass die schwere Belastung des Gewissens durch eigene Schuld letztlich zu psychosomatischen Symptomen führen kann. Ich war ebenfalls fix und fertig und spürte meine Schuld am ganzen Körper.

      Es war Gottes Barmherzigkeit, die mich von meiner Last befreit hat. Als ich nicht mehr weiterwusste, entschloss ich mich, zu beichten. Ich nannte vor einem anderen Menschen meine Schuld ungeschönt beim Namen, ich bekannte sie. Das fiel mir nicht leicht, ganz im Gegenteil. Ich schämte mich abgrundtief und heulte während meines Bekenntnisses Rotz und Wasser. Aber diese Beichte befreite mich. Gemeinsam mit meinem Beichtvater betete ich und bat um Vergebung – und er wiederum sprach mir diese Vergebung im Namen von Jesus zu und stellte mich unter Gottes Segen.

      Als ich später nach Hause fuhr, hätte ich das Auto eigentlich nicht gebraucht: Ich hätte fliegen können, so leicht fühlte sich mein Leben an.

      Barmherzigkeit hat mir meine Schuld vergeben!

      Die Sprache der Barmherzigkeit sprechen

      In meinem Leben gab es immer wieder barmherzige Samariter: Frauen und Männer, denen meine Not zu Herzen ging, sodass sie nicht einfach achtlos an mir vorübergingen, sondern mich verbanden und versorgten. Und ich kann es nicht oft genug betonen: Ohne diese Samariter gäbe es mich heute nicht!

      Der Theologe und Psychologe Wunibald Müller schreibt:

      Niedergehalten von Selbstzweifeln, Schuldgefühlen, der täglichen Erfahrung von Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit, sind wir auf Barmherzigkeit angewiesen, sehnen wir uns immer wieder nach der gnadenvollen Erfahrung von Barmherzigkeit. Sind es doch die Momente, in denen wir uns wie befreit und erlöst fühlen von so manchen Lasten, die schwer auf uns drücken. 11

      Eine solche gnadenvolle Erfahrung habe ich gemacht. Eben darum ist mir dieses Thema so wichtig, denn es gibt in unserem persönlichen Umfeld sehr viele Menschen, die in ihrem Leben verletzt, erniedrigt und ausgeraubt wurden. Menschen, die halb tot an unserem Wegesrand liegen und denen wir der oder die Nächste sein können. Diese Verwundeten brauchen zunächst nicht unsere moralischen Urteile, nicht unsere tollen Ratschläge und auch nicht unsere wohl formulierten Handzettel. Was sie zuerst und vor allen Dingen brauchen, ist unsere Barmherzigkeit! Sie brauchen jemanden, der fühlt, was er sieht, und darum tut, was er kann – eine Samariterin oder einen Samariter, der sie aufrichtet, die Wunden reinigt und verbindet, ihnen zur Seite steht, sie auf dem Weg der Heilung begleitet und ihnen so ihre Würde zurückgibt und neues Leben ermöglicht.

      Es ist meine tiefste Überzeugung: Wir werden die Menschen um uns herum nur dann mit der frohen Botschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, erreichen, wenn wir ihnen mit Barmherzigkeit begegnen. Der von mir sehr geschätzte Papst Franziskus drückt dies sehr treffend und leidenschaftlich aus:

      Wir brauchen Christen, die für die Menschen unserer Zeit die Barmherzigkeit Gottes und seine Zärtlichkeit allen Geschöpfen gegenüber sichtbar machen. Wir alle wissen, dass die derzeitige Krise der Menschheit nicht nur oberflächlich ist, sie geht in die Tiefe. Aus diesem Grund muss sich die Neuevangelisierung der Sprache der Barmherzigkeit bedienen, während sie dazu aufruft, den Mut zu haben, gegen den Strom zu schwimmen, sich von den Götzen zum einzig wahren Gott zu bekehren – einer Barmherzigkeit, die zuerst aus Gesten und Haltungen besteht und erst dann aus Worten. Die Kirche sagt mitten unter den Menschen von heute: Kommt alle zu Jesus, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe schaffen (vgl. Matthäus 11,28-30). Kommt zu Jesus. Er allein hat Worte des ewigen Lebens. 12

      Indem wir die Sprache der Barmherzigkeit sprechen, tun wir letztlich nichts anderes, als dem Vorbild unseres Vaters im Himmel zu folgen, so wie es Jesus Christus von uns erwartet, wenn er sagt: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« 13.

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      »UNTER RÄUBERN« – Wie schnell unsere Lebensträume zerplatzen

      Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen.

      Lukas 10,30

      Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien

      Wörtlich sagt Jesus: »Ein Mensch (ἄνθρωπός) ging hinab von Jerusalem nach Jericho.« Für die damaligen Hörer ist sofort klar: Bei diesem Menschen muss es sich um einen Mann handeln, da eine Frau diesen Weg niemals allein gehen würde. Zudem wird es sich um einen Juden handeln, denn er geht von der Hauptstadt Israels hinab in die bedeutende jüdische Stadt Jericho – ein Weg, der zu 95 Prozent von Juden genutzt wurde.

      Auch wir haben vermutlich gleich ein Bild vor Augen, wenn wir diese Erzählung hören, und das ist völlig in Ordnung. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass Jesus hier sehr bewusst offenlässt, um wen genau es sich bei dem Reisenden handelt. Es ist einfach ein Mensch – und das bedeutet: Seine Herkunft und soziale Stellung sind ebenso bedeutungslos wie sein Geschlecht oder seine Hautfarbe. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ist sein Ebenbild. Jeder Mensch ist von Gott geliebt und gewollt – das gibt ihm seine unantastbare Würde. Und wenn ein solcher Mensch unsere Hilfe benötigt, weil er sich in einer Notlage befindet, dann hat er genau diese Hilfe zu erhalten – unabhängig von seiner Nationalität, seinem sozialen Milieu, seiner Religion oder seinen Überzeugungen.

      Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien – Gottes Barmherzigkeit nicht, und unsere sollte sie auch nicht kennen! Letztlich ist es nicht einmal entscheidend, ob der notleidende Mensch seine schlimme Lage selbst verschuldet hat. Wer seelisch oder körperlich verblutet, braucht keine Moralpredigten und Ratschläge, sondern lebensrettende Erste-Hilfe-Maßnahmen!

      Der Abstieg von Jerusalem

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