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Hermiston. Ihm kam der Gedanke, daß er sich jetzt auf eine ernste, um Tod und Leben gehende Angelegenheit einlasse. Es war ein erwachsenes Weib, dem er sich hier näherte, begabt mit geheimnisvollen Kräften und Reizen, mit dem ewigen Schatz ihres Geschlechts, und er war nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt seines Alters und seiner Art. Eine gewisse Zartheit war ihm eigen, die ihn bisher rein erhalten und die ihn (ohne daß er oder sie es ahnte) nur um so gefährlicher machte, sobald sein Herz ernstlich gesprochen hatte. Seine Kehle war trocken, als er sich ihr näherte, aber die bittende Süße ihres Lächelns stand, ein Schutzengel, zwischen ihnen beiden.

      Denn sie wandte sich ihm zu und lächelte, jedoch ohne sich zu erheben. In dieser Art, ihn als Kavalier zu begrüßen, lag eine Nuance, die beiden entging, ihm sowohl, der ihren Gruß einfach liebenswürdig und anmutig wie sie selbst fand, als auch ihr, die sie trotz ihres raschen Denkens den Unterschied zwischen dem Aufstehen, um den jungen Herrn zu begrüßen, und dem sitzenden Gruß an den erwarteten Verehrer nicht erfaßte.

      »Geht Ihr nach Westen, Hermiston?« fragte sie, indem sie ihm nach der herrschenden Sitte den Titel seines Guts verlieh.

      »Jawohl«, sagte er ein wenig heiser, »aber ich glaube, mein kleiner Spaziergang ist jetzt zu Ende. Geht es Ihnen wie mir, Fräulein Christina? Mich duldete es nicht zu Hause. Ich kam hierher, um Luft zu schöpfen.«

      Er ließ sich auf dem anderen Ende des Grabsteins nieder und betrachtete sie, forschend, was wohl hinter ihr stecke. Diese Frage war unendlich wichtig für sie beide. »Ja«, meinte sie, »auch ich konnte kein Dach über dem Kopf vertragen. Es ist so eine Gewohnheit von mir, wenn’s dämmert und es ruhig und kühl ist, hierherzukommen.«

      »Das war auch meiner Mutter Gewohnheit«, sagte er ernst. Halb schreckte ihn die Erinnerung, als er ihr Worte verlieh. Er blickte sich um. »Seither bin ich kaum hiergewesen. Es ist friedlich hier«, sagte er, tief Atem schöpfend.

      »Ja, ganz anders als in Glasgow«, entgegnete sie. »Ein trauriger Ort, Glasgow! Aber was für einen Tag und welch herrlichen Abend hab’ ich mir für mein Heimkommen ausgesucht!«

      »Ja, es war wahrhaftig ein wunderbarer Tag«, sagte Archie. »Ich glaube, ich werde ihn nicht vergessen, bis ich sterbe. An Tagen wie heute – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – erscheint alles so flüchtig, so gebrechlich und so wundervoll, daß ich Angst habe, mit dem Leben in Berührung zu kommen. Wir sind gar so kurze Zeit hier auf Erden – und all die alten Leute vor uns – die Rutherfords von Hermiston, die Elliotts von Cauldstaneslap –, alle, die vor kurzem erst hier herumritten und viel Geschrei in diesem stillen Winkel machten – und liebten und heirateten –, wo sind sie jetzt? Es ist eine tödliche Banalität, die ich da sage, aber schließlich sind auch die großen poetischen Wahrheiten Banalitäten.«

      Er war am Werk, sie zu prüfen, halb unbewußt, ob sie ihn wohl verstehen würde, um zu erfahren, ob sie nur ein Tier wäre, in die Farben der Blumen gekleidet, oder auch eine Seele besäße, ihr unvergänglichen Liebreiz zu verleihen. Sie, ihrerseits, wartete beherrscht und frauengleich auf eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen und seine Stimmung widerzuspiegeln, wie immer diese auch sein mochte. Der dramatische Künstler, der schlummernd oder nur halb wach in fast allen Menschen ruht, war in ihr zu göttlicher Raserei erweckt, und der Zufall war ihr günstig. Sie warf ihm einen zurückhaltenden, dämmrigen Blick zu, wie er zu dieser Stunde und zu seinem Gedankengang paßte; heiliger Ernst leuchtete aus ihr gleich den Sternen im purpurnen Westen; und von der starken, aber gebändigten Erschütterung ihres ganzen Wesens ging ein Schauer in ihre Stimme über, der auch in ihren nebensächlichsten Worten widerklang.

      »Erinnert Ihr Euch an Dandies Lied?« fragte sie. »Ich glaube, er hat damit ausdrücken wollen, was Ihr soeben dachtet.«

      »Nein, ich habe es niemals gehört«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht aufsagen?«

      »Es ist aber gar nichts ohne Melodie«, entgegnete Christina.

      »Dann singen Sie’s mir doch vor«, bat er.

      »Am heiligen Sonntag? Das ginge doch beileibe nicht, Mr. Weir.«

      »Ich fürchte, ich nehm’ es mit dem Sonntag nicht gar zu ernst, und hier ist ja auch niemand, zuzuhören, höchstens der arme Tote dort unter dem Stein.«

      »Nicht daß ich das wirklich so meine«, fuhr sie fort. »Meiner Ansicht nach ist das Lied genauso ernst wie ein Psalm. Soll ich’s Ihnen also vorsummen?«

      »Ich bitte darum«, sagte er und rückte näher an sie heran, ganz Ohr.

      Sie setzte sich aufrecht, wie um zu singen. »Ich kann es Ihnen doch nur vorsummen«, lächelte sie. »Ich möchte am Sonntag nicht laut singen. Ich glaube, die Vögel würden es Gilbert zutragen. Es handelt von den Elliotts«, fuhr sie fort, »und ich meine, es gibt in all den Gedichtbüchern nur wenige Dinge, die schöner sind, obwohl Dand niemals gedruckt worden ist.« Und sie hub in den weichen klaren Schwingungen ihrer gedämpften Stimme zu singen an; jetzt sank die Stimme fast zu einem Flüstern herab, jetzt wieder, bei den Tönen, die ihr besonders gut lagen und auf die Archie bald mit wachsender Bewegung wartete, schwoll sie an:

      Sie ritten im Regen in den Zeiten, die gewesen,

       In Regen und Wind und Luft;

       Sie schrien beim Gelage und schlugen sich im Hage,

       Jetzt ruhen sie stumm in der Gruft.

       Die alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts,

       Harten, heißen Elliotts alter Zeit.

      Während dieser ganzen Zeit blickte sie fest vor sich hin, mit graden Knien, die Hände im Schoß und den Kopf hoch aufgerichtet. Ihr Vortrag war durchweg bewundernswert; hatte sie ihn nicht unter des Autors Fuchtel von ihm selbst gelernt? Als sie schwieg, wandte sie Archie ein weiches, strahlendes Gesicht zu, Augen, die im Dämmerlicht matt leuchteten und verschwammen, und sein Herz schlug heftig und flog ihr in Mitleid und grenzenloser Sympathie entgegen. Dies war die Antwort auf seine Frage. Sie war ein menschliches Wesen, empfänglich auch für die Tragik des Lebens; ja, Tragik, Musik und ein großes Herz lebten in diesem Mädchen.

      Instinktiv erhob er sich; sie folgte, denn sie sah, sie hatte einen Sieg davongetragen, wollte den Eindruck verstärken und war klug genug, nach einem Erfolge zu fliehen. Jetzt gab es nur noch Nichtigkeiten auszutauschen, aber ihre leisen, bewegten Stimmen heiligten auch diese in ihrem Gedächtnis. In dem wachsenden Grau des Abends sah er ihre Gestalt auf dem gewundenen Pfad durch das Moor entschwinden, sah sie ein letztes Mal sich umdrehen und ihm winken, dann hatte der Einschnitt der Berge sie verschluckt, und es war ihm, als habe sie etwas aus der Tiefe seines Herzens mitgenommen. Doch wahrlich, er hatte dafür eine Gegengabe empfangen, etwas, das dauern sollte. Aus den Tagen seiner Kindheit war ihm ein Bild seiner Mutter haftengeblieben, halb verblaßt durch die Zeit und durch ein Heer neuer Eindrücke, das Bild, wie sie ihm mit zittrigem Ernst und häufig unter strömenden Tränen des Betenden Webers Geschichte erzählte, hier auf dem Schauplatz seiner kurzen Tragödie und langen Rast. Und jetzt gab es ein Gegenbild dazu; er sah und würde bis in alle Ewigkeit Christina sehen, wie sie in den grauen Farben des Abends auf dem nämlichen Grabmal hockte, anmutig, zierlich, vollkommen wie eine Blume, und auch sie sang.

      Vom Unglück ferner Zeiten,

       Von Schlachten, altersgrau,

      von ihren gemeinsamen, längst verstorbenen Ahnen, von deren rohen Kriegen und Waffen, mit ihnen verscharrt, von jenen seltsamen Wechselbälgen, ihren Nachkommen, die noch eine kleine Spanne Zeit hier verweilen würden, um dann wie jene zu vergehen und vielleicht auch von Fremden zur Dämmerstunde besungen zu werden. Dank einer unbewußten, zärtlichen Gefühlswallung stellte er die beiden Frauen Seite an Seite in den Heiligenschrein seines Gedächtnisses. Ja, in jener empfindsamen Stunde schössen ihm Tränen in die Augen, wenn er der einen oder anderen gedachte; und das Mädchen rückte aus der Kategorie der leuchtenden und reizvollen Erscheinungen in die Region der Dinge auf, die so ernst waren wie das Leben selbst und der Tod oder das Bild seiner verstorbenen Mutter. So spielte allseits und in jeder Richtung das Schicksal mit diesen armen Kindern sein kunstvolles Spiel. Die Generationen waren vorbereitet, die Schmerzen vorherbestimmt, ehe noch der Vorhang sich über dem dunklen Drama erhob.

      Im

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