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sorgen konnten und auf finanzielle Hilfe angewiesen waren. Dem wird mit der Regelung „Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern“ (Ex 22,24) Rechnung getragen. Gott untersagte es, aus der Not der Armen wirtschaftliches Kapital zu schlagen. Der Zins sollte nicht nach Marktgesetzen festgelegt werden, sondern die Möglichkeiten des Zinsnehmenden berücksichtigen. Auf keinen Fall durfte die Geldverleihung der Beginn einer Verschuldungsspirale sein. Wenn man daran denkt, dass der Zinssatz für Geld bei rund einem Fünftel der aufgenommenen Summe lag, bei Getreide rund ein Drittel ausmachte und im Einzelfall über der Hälfte liegen konnte (De Vaux 1973, 171), stellte das Verbot des Wucherzinses eine wichtige Regelung zur Verhinderung permanenter Verarmung dar. Die Schutzrechte des Bundesbuches schließen mit einer Pfandrechtsregelung, welche wiederum den Armen und sonstigen schutzbedürftigen Personen zugute kommen sollte: „Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin sollte er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid“ (Ex 22,25–26).

      Die Schutzrechte für sozial Benachteiligte machen deutlich: Im alttestamentlichen Gerechtigkeits-Paradigma stand der soziale Zusammenhalt über dem Gewinnstreben. Besitz war sozialpflichtig. Sei es, dass jemand Ländereien besaß – die entscheidende Ressource im alten Israel –, sei es, dass jemand sich in irgendeiner Weise in einer Position der Stärke gegenüber anderen befand – etwa gegenüber Witwen und Waisen – sie alle wurden darauf verpflichtet, ihre Position oder ihre Ressource nicht zum Nachteil anderer auszunutzen, sondern dem Mitbürger zu dienen. Auf diese Weise wurde das Gewinnstreben ethisch begrenzt und in eine lebensdienliche Wirtschaftsordnung überführt, in der auch Schwache ihren Platz hatten. Das schrankenlose Gewinnstreben verfällt so deutlicher Kritik. Die Wirtschaft sollte den Menschen dienen und ihn nicht zu einem Handlanger der Gewinnmaximierung machen. Eine lebensdienliche Wirtschaftsordnung misst sich am Wohl der Schwachen.

       Gerechte Strukturen

      Das Konzept der Gerechtigkeit im Alten Testament weist einen breiten Bedeutungsradius auf. Gerechtigkeit meint Gemeinschaftstreue, Rechtstreue, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit gegenüber Armen und Schwachen. Der primäre Ort der Gerechtigkeit ist das Ethos des Einzelnen, nicht das von staatlichen oder sonstigen Institutionen (Gerlach 2006, 199). Der zum Volk Gottes Zugehörige war dazu gerufen, den Bund mit Jahwe zu halten und seine Liebe zu seinem Gott durch aktiven Gehorsam gegenüber seinem Willen zu demonstrieren. Es ging darum, den Herrn in jedem Bereich des Lebens zu lieben von ganzer Kraft und mit ganzer Seele. Die Liebe zu Gott und der daraus resultierende willige Gehorsam gegenüber Jahwe war die Achillesferse des sozialen Gefüges. Deshalb wird in den Gesetzen und Bestimmungen des Alten Testamentes mit „du sollst“ oder „du sollst nicht“ überwiegend der Einzelne angesprochen. Der Einzelne, insbesondere die Besitzenden, sollten nicht mechanisch eine Regelung einhalten, sondern von Herzen Barmherzigkeit und Freigebigkeit üben.

      Das alttestamentliche Konzept der Gerechtigkeit lässt sich deswegen aber nicht auf barmherzige Zuwendungen reduzieren. Not sollte nicht bloß gelindert werden, nachdem sie entstanden war; sie sollte durch die Schaffung gerechter Strukturen und Institutionen möglichst vermieden werden. In den Worten von Gerlach (a.a.O., 199): „Neben der Erinnerung an die Gebote der Barmherzigkeit und Freigiebigkeit liegt ein besonderer Schwerpunkt der Kritik der alttestamentlichen Propheten auf der Anklage von Missständen im Rechtswesen, Anklagen über Bestechlichkeit, Käuflichkeit, Rechtsbruch aller Arten, besonders gegenüber Schwachen.“7 Der Gerechtigkeitsbegriff des Alten Testamentes kann nicht nur sozial und nicht nur soteriologisch verstanden werden. Er ist unvollständig, wenn er nicht auch juristisch verstanden wird. Gesetze hinsichtlich des Zinsnehmens, der Pfändung, der Bestechung, des rechtlichen Gehörs oder dem Schulderlass machen deutlich: „Die biblische Gerechtigkeit darf also nicht auf den Aspekt des barmherzigen Ethos reduziert werden … Gerechtigkeit zeigt sich in dieser Hinsicht vor allem darin, dass grundlegende Rechte vor Gericht, also bei Konfliktfällen, gewahrt bleiben. Machtungleichheit soll durch Gerichte ausgeglichen und nicht verstärkt werden“ (a.a.O.).

      Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit ist umfassend und beinhaltet ebenso wie die persönliche Verantwortung die Transformation der Strukturen. Gerechtigkeit bedeutet alttestamentlich sowohl Treue zu Gott als auch Gemeinschaftstreue. Sie beinhaltet sowohl die barmherzige Zuwendung als auch die Transformation der gesellschaftlichen Strukturen. Sie ist sowohl ein Handeln Gottes als auch ein Tun des Menschen.

      Gerlach bilanziert: „Der forensische Aspekt der Gerechtigkeit behält seinen Stellenwert und darf nicht gegen den soteriologischen Aspekt ausgespielt werden“ (a.a.O., 199). Wenn Berneburg (1997, 272–275) Gerechtigkeit als ein Handeln Gottes und nicht als ein Tun des Menschen charakterisiert, wenn er Gerechtigkeit vorrangig als soteriologische Gabe bezeichnet und wenn er behauptet, die Bibel unterscheide streng zwischen Gottesgerechtigkeit und menschlicher Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, dann ist der eine Aspekt von Gerechtigkeit (der soteriologische) gegen einen anderen Aspekt (den sozialen) ausgespielt worden. Natürlich ist Berneburg beizupflichten, wenn er sicherstellen möchte, dass soteriologische Gerechtigkeit nicht zugunsten des sozialen Aspekts ihrer zentralen Stellung beraubt werden darf. Doch man kann die Bedeutung des einen Aspekts (des soteriologischen) so stark herausstreichen, dass der andere Aspekt (der soziale) praktisch negiert wird. Dieser Dualismus muss überwunden werden. Der Anbruch des 21. Jahrhunderts zeigt eine Rückkehr zu einem ganzheitlichen und biblischen Verständnis von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit wird sowohl soteriologisch (damit begründet sich die Dringlichkeit der Evangelisation) als auch sozial verstanden (damit begründet sich die Pflicht sozialen Handelns). Mit diesem ganzheitlichen Verständnis ist die Kirche in der Lage, Antworten auf die geistliche und soziale Not der Menschen zu geben.

       Neues Testament – Entgrenzung und Überbietung des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs

      Wenn man das Neue Testament auf die Bedeutung des Begriffs „Gerechtigkeit“ untersucht, scheint der Befund eindeutig zu sein: Gerechtigkeit ist ein soteriologischer Begriff, der die gnädige Rechtfertigung des Sünders durch Gott meint. Der Bedeutungsradius des Wortes scheint damit umfassend charakterisiert zu sein. Denn an kaum einer Stelle im Neuen Testament finden wir Aufrufe zu sozial gerechtem Handeln, die so ausführlich und eindringlich sind wie bei den alttestamentlichen Propheten. Überdies scheint das Neue Testament weniger an der Frage der Gerechtigkeit interessiert zu sein, dafür umso mehr an der Liebe. So oft im Alten Testament der Begriff „Gerechtigkeit“ oder „gerecht“ fällt, so oft findet sich im Neuen Testament der Begriff „Liebe“ oder „lieben“. Nun verbinden wir den Begriff der Liebe nicht unbedingt mit Gerechtigkeit. So entsteht der Eindruck, soziale Gerechtigkeit sei kein Anliegen der neutestamentlichen Ethik. In diesem Abschnitt werde ich argumentieren, dass dieser Eindruck dem Neuen Testament an entscheidenden Punkten widerspricht. Das Gegenteil ist der Fall: Das Neue Testament entgrenzt den alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriff und überbietet ihn.

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