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im Neuen Testament nicht unter dem Begriff der Gerechtigkeit zur Sprache (a.a.O., 273). Mit Blick auf die Entwicklung einer evangelikalen Sozialethik warnt er: „Gegenüber einer vorschnellen Identifizierung von aus der Heiligen Schrift erhobener Gottesgerechtigkeit und menschlichen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ist auf die strenge Unterscheidung zwischen beiden zu verweisen“ (a.a.O., 275). Berneburg möchte verhindern, dass es in der evangelikalen Missionstheologie zu einer humanistischen Verflachung des Evangeliums kommt, welche den soteriologischen Aspekt der Gottesgerechtigkeit schlussendlich negiert. Er warnt in diesem Zusammenhang vor einer sozialethischen Verengung des Gerechtigkeitsbegriffs (a.a.O., 275) und möchte so sicherstellen, dass Gerechtigkeit die persönliche Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus bleibt.

      Berneburgs Unbehagen spiegelt die traditionelle evangelikale Haltung zur sozialen Gerechtigkeit wieder. Man möchte nicht, dass die Bemühungen um soziale Gerechtigkeit die überaus deutliche Lehre von der Notwendigkeit der geschenkten Gottesgerechtigkeit im Sinne der Rechtfertigung durch den Glauben verdrängen. Das ist mit Nachdruck zu bejahen. Nur sollte dieses Unbehagen nicht dazu führen, dass man sich zu zögerlich mit dem Thema Gerechtigkeit befasst oder es gar negiert.

      Wir brauchen eine solide biblische Theologie der Gerechtigkeit, welche alle Aspekte von Gerechtigkeit berücksichtigt und in das richtige Verhältnis zueinander rückt. Um dies zu ermöglichen, müssen wir die Frage stellen: Ist es zulässig, die alttestamentliche Sozialethik paradigmatisch zu verstehen? Mit anderen Worten: Dürfen die Vorstellungen von gerechtem Handeln und von sozial gerechten Strukturen, wie sie im Alten Testament vorkommen, modellhaft auf heute übertragen werden? Wird diese Frage verneint, ist ausgesagt, Israel stelle einen Sonderfall in der Heilsgeschichte dar, der uns in der Frage nach der sozialen Verantwortung nicht weiterhelfen könne. Man wird dann Zuflucht zum Neuen Testament suchen und feststellen, dass dort der Gerechtigkeitsbegriff kaum in Bezug zu sozial verantwortlichem Handeln gesetzt wird. Und daraus wird man folgern, es sei nicht die Aufgabe der Kirche, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Mit dieser verkürzten Argumentation aber geht man des enormen Reichtums des Alten Testamentes in sozialethischer Hinsicht verlustig.

       Übertragung

      In meinem Buch Kirche ist Mission habe ich eine Rechtfertigung vorgetragen, die es erlaubt, das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes auf heute zu übertragen.6 Wenn wir eine paradigmatische Übertragung vornehmen, versuchen wir nicht, jedes einzelne Gesetz möglichst buchstabengetreu in unseren Kontext zu überführen. Wir fragen vielmehr nach der Intention, welche hinter einem bestimmten Gesetz liegt. Wir versuchen dadurch den die Zeiten und Kulturen überschreitenden Gehalt des Gesetzes zu identifizieren und diesen im Sinne der ursprünglichen Absicht auf heute zu übertragen. Das soll im Folgenden geschehen.

       Menschenrechte

      In den sozialen Schutzbestimmungen des Alten Testamentes sind im Kern basale Menschenrechte enthalten (Gerlach 2006, 188). Den Armen wird das Recht auf Nahrung zugestanden. Sie dürfen Nachlese auf den Feldern halten und während der Brache nehmen, was auf den Feldern wächst (Ex 23,6–8). Jeder Mensch hat ungeachtet seiner sozialen Stellung Anrecht auf rechtliches Gehör (Ex 23,1–3). Wer als Hebräer seine Freiheit verliert, hat dank des Sabbatjahrs nach spätestens sieben Jahren das Recht auf einen Neuanfang (Ex 21,2). Er muss freigelassen werden und nach spätestens fünfzig Jahren geht durch die Ausrufung des Jubeljahrs der Besitz an seine Familie zurück (Lev 25,8ff). Freilich werden diese Rechte nicht als Menschenrechte ausformuliert, sondern sie werden den Besitzenden und Einflussreichen als Pflichten auferlegt. Das ändert nichts am Umstand, dass mit den zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen basale Menschenrechte angelegt sind. Gerlach ist zuzustimmen, wenn er sagt:

      Die moderne Gewährung von Grundrechten ist damit im Kern in den biblischen Schriften angelegt und sie musste und muss bleibend weiterentwickelt werden. Dabei geht es im modernen Kontext um die Weiterentwicklung von Chancengleichheit und Teilhaberrechten sowie um die Ausbalancierung von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. (Gerlach 2006, 200)

      Gerlach weist hier darauf hin, dass das biblische Gerechtigkeitskonzept in der Regel nicht direkt übertragen werden kann, es aber ein utopisches Potenzial aufweist, das zu neuen Handlungsoptionen provoziert. Die Kraft der Utopie und utopischer Texte könne helfen, neue Optionen überhaupt zu finden, durchzuspielen und zu erproben. Er nennt ein Beispiel:

      Die Erlassjahrkampagnen, die seit den 80er-Jahren die gravierenden Missstände der internationalen Schuldenkrise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht haben, konnten sich auf die biblischen Erlassjahrforderungen und die Bestimmungen zum Jobeljahr berufen (Gerstenberger 2000). Anfangs als naiv belächelt konnte sich langsam die Einsicht durchsetzen, dass arme Länder einen begrenzten und geregelten Schuldenerlass erhalten müssen. Selbstverständlich sind die Missbrauchsmöglichkeiten solcher Erlasse und ihre Wirkung auf zukünftiges Verhalten mit zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit einer Entschuldung, das Recht auf eine zweite Chance für jeden Menschen, wurde in Deutschland auch im Insolvenzrecht für Privatpersonen entwickelt. Interessanter Weise kam hier der biblische Rhythmus zu tragen: nach sechs Jahren des Wohlverhaltens ist eine Entschuldung und ein Neuanfang möglich. Die weitere Entwicklung wird aber auch bei diesem Gesetz zeigen, ob sich dieses Schutzrecht langfristig positiv auswirkt oder ob einem bestimmten Personenkreis künftig notwendige Kredite vorenthalten werden, zumal sich abzeichnet, dass die Privatinsolvenz auch strategisch ausgenutzt werden kann. (a.a.O., 200)

      Das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes bietet einen enormen Reichtum auch für die Entwicklung einer globalisierungstauglichen Sozialethik:

      Das kritische und utopische Potential der biblischen Schriften muss präsent gehalten werden, damit es verantwortungsethisch umgesetzt werden kann. Es muss dazu verwandt werden, dass die biblische Einsicht der Weisheitstradition auch in unserer modernen Gesellschaft wach bleibt und die langfristig positiven Folgen praktizierter Gerechtigkeit für ein Volk erkannt werden: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche Salomos 14,34). (a.a.O., 200)

       Lebensdienliche Wirtschaftsordnung

      In den sozialen Schutzbestimmungen des mosaischen Gesetzes sind nicht nur basale Menschenrechte angelegt. Die Schutzrechte für besonders verwundbare Personen sind so zahlreich und sie greifen so stark in das Gesellschaftsleben ein, dass vom Ziel einer lebensdienlichen Wirtschaftsordnung (Gerlach 2006, 199) gesprochen werden kann.

      In den Schutzrechten des Bundesbuches (Ex 22,20–26) für besonders verwundbare Personen greifen die sozialen Regelungen, die Gott erließ, tief in das wirtschaftliche Alltagsleben ein. Zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählten die Fremden: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen“ (Ex 22,20). Der Ausdruck „Fremde“ bezieht sich auf die in Israel lebenden Ausländer (Deut 14,21), aber auch die innerhalb des Landes vertriebenen Personen. Kriege und wirtschaftliche Not führten dazu, dass Familien das Land ihrer Väter verlassen und sich in einem anderen Stammesgebiet niederlassen mussten. Aus ihrer Sippe herausgerissen, mussten sie ohne verwandtschaftliche Beziehungen eine Existenz aufbauen und waren daher auf Hilfe jenseits der Familie angewiesen (Otto 1994, 84).

      Die am stärksten verwundbaren Teilhaber der Gesellschaft waren Witwen und Waisen. Der soziale Zusammenhalt, die Durchsetzung der Rechte und die Sicherung der Existenz wurden in Israel durch die Einbettung in die Sippe erreicht. Witwen und Waisen fanden sich ohne dieses soziale Netz wieder und waren darum verwundbar. Sie hatten kein Familienoberhaupt, das ihnen rechtliches Gehör verschaffen konnte. Sie waren die schwächsten Glieder im sozialen Gefüge und darum besonders auf Schutz angewiesen. Entsprechend streng fallen die Schutzbestimmungen für sie aus: „Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert umbringen,

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