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Amos sie beschreibt, sind keine Kollateralschäden einer globalisierten Welt, in der einige Nutzen ziehen können und andere leider nicht, sondern es sind Verbrechen. Amos Sicht von Sünde ist radikal und umfassend. Er beklagt die Ungerechtigkeit gegenüber den Kleinen und Schwachen, und im gleichen Atemzug verdammt er sexuelle Unmoral. Wir finden keine künstliche Trennung zwischen sozialethischer Ungerechtigkeit und individueller Unmoral vor, denn Gott ist sowohl heilig als auch gerecht. Wie die anderen Propheten hatte auch Amos besonders für die, die sich durch Ungerechtigkeit bereicherten, scharfe Worte übrig:

      Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen. Bei Gericht hassen sie den, der zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie. Weil ihr von den Hilflosen Pachtgelder annehmt und ihr Getreide mit Steuern belegt, darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen – und wohnt nicht darin, legt ihr euch prächtige Weinberge an – und werdet den Wein nicht trinken. Denn ich kenne eure vielen Vergehen und eure zahlreichen Sünden. (Amos 5,10–12)

      Die Worte des Propheten klingen wie ein Kommentar zur globalisierten Weltwirtschaft. Auf der einen Seite die Armen und Hilflosen, die für ein Stück Brot oder einen Maisfladen unzählige Stunden Arbeit verrichten müssen – sofern ihnen der Lohn überhaupt ausbezahlt wird. Mehr als 2 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen. Wenn sie mit ihrem dürftigen Einkommen weder einen Arztbesuch noch sauberes Trinkwasser kaufen können, sind sie da nicht um ihren gerechten Lohn gebracht worden? Auf der anderen Seite die Wohlhabenden und Mächtigen, die sich schamlos bereichern und jährlich Millionen kassieren. Das Geld, das sie den Arbeitern vorenthalten, schlägt auf ihrem Konto zu Buche. Sie verwandeln das Recht in bitteren Wermut und machen sich den Gott der Gerechtigkeit zum Feind.

       Menschenpflicht Gerechtigkeit

      Im Alten Testament steht über allen menschlichen Beziehungen das von Jahwe geschenkte Gnadenverhältnis zu seinem Volk. Israel war Gottes Eigentum und auf das Tun des Willens Jahwes verpflichtet (Ex 19,5–6). Israel als Volk unter der Herrschaft Jahwes war nichts weniger als die Pflicht auferlegt, dem Gott, den es bekannte, zu gleichen, und wie er nicht nur heilig zu sein, sondern auch gerecht zu handeln. Gerechtigkeit üben ist eine in der alttestamentlichen Ethik fest verankerte Menschenpflicht. Nirgends kommt das prägnanter zum Ausdruck als in Micha 6,8: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“ Israel wird hier als „Mensch“ angesprochen. Das weist darauf hin, dass Israel nicht nur Gerechtigkeit üben sollte, weil es ein erlöstes Volk war. Gottes Forderung nach Gerechtigkeit erstreckt sich auf alle Menschen. Es geht um eine allgemeine Menschenpflicht. Die Anrede „Mensch“ weist außerdem auch darauf hin, dass es um ein Ethos des Einzelnen geht. Das wird wiederum im Bundesbuch und den übrigen gesetzlichen Bestimmungen in den fünf Büchern Mose deutlich: Mit „du sollst“ und „du sollst nicht“ werden verschiedene Alltagsituationen eingeleitet, in welchen Gerechtigkeit geübt werden soll. Der verirrte Esel soll dem Feind zurückgebracht werden (Ex 23,4), die Armen sollen im Brachjahr vom Getreide auf dem Feld, den Trauben in den Weingärten und dem Öl in den Olivenhainen essen (Ex 23,10–11). Die Fremden sollen nicht ausgebeutet werden und das Recht des Armen nicht gebeugt werden (Ex 23,8–9).

      Besonders in die Pflicht genommen werden die Besitzenden und die Mächtigen. Gerlach (2006, 199) trifft einen wichtigen Punkt, wenn er sagt, dass die biblische Gerechtigkeit nicht auf den Aspekt des barmherzigen Ethos reduziert werden dürfe. Die im Gesetz geforderte Rechtstreue ist umfassender Natur. Das Gesetz nimmt die Besitzenden in die Pflicht, wenn gesagt wird, dass die Brache zugunsten der Armen eingehalten werden soll (Ex 23,10–11). Und es nimmt die Mächtigen in die Pflicht, wenn es heißt, dass Arme, Witwen, Waisen und Fremde nicht ausgebeutet und das Recht der sozial Schwachen im Rechtsstreit nicht gebeugt werden dürfen (Ex 23,6–9). Das Konzept der Gerechtigkeit ist im Alten Testament in dem Sinn umfassend, als es den Einzelnen in die Pflicht nimmt gerecht zu handeln, und die Mächtigen und Reichen verpflichtet gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die Gerechtigkeit und Ausgleich ermöglichen. Alttestamentliche Gerechtigkeit ist kein bloßes Almosengeben für Bedürftige. Die vom Gesetz verlangte und von den Propheten mit Nachdruck eingeforderte Gerechtigkeit schnitt tief in die gesellschaftlichen Strukturen Israels.

      Die politische Macht lag seit Davids Regierung hauptsächlich beim König. Er war der politische Entscheidungsträger und von ihm wurde erwartet, dass er im Namen Jahwes für Recht und Gerechtigkeit sorgte. David war der Prototyp des gerechten Königs. Von ihm heißt es, dass er für Recht und Gerechtigkeit im ganzen Volk sorgte (2Sam 8,15). Salomo verfeinerte die Gesetze Israels und sorgte für Rechtssicherheit auch für die Geringen (1Kö 3,16–28). Im Königpsalm 72 portraitiert Salomo den idealen Herrscher:

      Verleih, dein Richteramt, o Gott, dem König, dem Königssohn dein gerechtes Walten! Er regiere dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen durch rechtes Urteil. Dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Höhen Gerechtigkeit. Er wird Recht verschaffen den Gebeugten im Volk, Hilfe bringen den Kindern der Armen, er wird die Unterdrücker zermalmen (…) Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat. Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er sie, ihr Blut ist in seinen Augen kostbar. (Ps 72,1–14)

      Der König, der gerecht regierte, erwies sich als wahrer Sohn Jahwes, des Königs über Israel, und wurde mit Recht gepriesen. Entsprechend wurden ungerechte Könige, Priester und andere einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens von den Propheten angeklagt:

      Weh der trotzigen, der schmutzigen, der gewalttätigen Stadt. Sie will nicht hören und nimmt sich keine Warnung zu Herzen. Sie verlässt sich nicht auf den Herrn und sucht nicht die Nähe ihres Gottes. Ihre Fürsten sind brüllende Löwen. Ihre Richter sind wie Wölfe in der Steppe, die bis zum Morgen keinen Knochen mehr übrig lassen. Ihre Propheten sind freche Betrüger. Ihre Priester entweihen das Heilige und tun Gewalt dem Gesetz an. Aber der Herr tritt für das Recht ein in ihrer Mitte, er tut kein Unrecht. (Zef 3,1–5)

      Zefanja klagte die gesamte gesellschaftliche Elite seiner Zeit an. Jerusalem war zur gewalttätigen Stadt geworden. Ihre Fürsten missbrauchten ihr Amt und waren zu brüllenden Löwen geworden. Die Richter waren bestechlich und sorgten dafür, dass Gerechtigkeit käuflich war. Die Propheten redeten betrügerische Worte, die vom Klerus und den Mächtigen gerne gehört wurden. Die Priester, die den Gottesdienst aufrechterhalten und das Gesetz lehren sollten, entweihten das Heiligtum und missachteten das Gesetz. Propheten wie Zefanja ließen keinen Zweifel: Wenn es um Gerechtigkeit ging, waren alle Besitzenden, allen voran die politisch Mächtigen und die gesellschaftlich Einflussreichen, in die Pflicht genommen.

      Ob es der König war, der das Verfügungsrecht über das Volk besaß, ob es Richter und Priester mit ihrer beträchtlichen Entscheidungsgewalt waren, ob es ein Sippenoberhaupt war, das in Familienangelegenheiten entschied, ob es der Besitzer eines Weinberges war oder ein schlichter Bauer, der zufällig den entlaufenen Esel seines Feindes fand – sie alle wurden von Jahwe auf gerechtes und barmherziges Handeln verpflichtet.

       Israels Gerechtigkeits-Paradigma

      Die Evangelikalen sind bisher zögerlich mit dem biblischen Gerechtigkeitsbegriff umgegangen. Gerechtigkeit wurde weitgehend mit Rechtfertigung gleichgesetzt. Der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff wurde kaum in sozial verantwortliches Handeln einbezogen. Erhard Berneburg (1997, 272–274) widmet in seiner Dissertation Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie einen kurzen Abschnitt dem Zusammenhang zwischen evangelikaler Sozialethik und dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit. Er zeigt sich besorgt darüber, dass der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff in der neueren evangelikalen Missionstheorie vermehrt zur Definierung der Sozialethik verwendet wird. Nach seinem Verständnis eignet sich der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff nicht dazu. Gerechtigkeit sei zu allererst nicht ein Tun des Menschen, sondern ein Handeln

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