Скачать книгу

Wassers hörte, befreite er sich aus Ernestos Griff und setzte sich auf die Bettkante. Durch die Tür hindurch konnte er sehen, wie seine Mutter sich das Wasser über Gesicht und Hände goß. Sie sah müde aus, aber sie war mehr als nur müde. Seine schöne Mutter mit dem aufrechten strammen Körper, seine Mutter mit den jungen fröhlichen Augen, die jeden zum Mitlachen ansteckten, seine Mutter stand nun im Licht der frühen Morgendämmerung, und David konnte sehen, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie war sehr mager, und man spürte förmlich, wie sich ihr Körper gegen jede Bewegung wehrte, als ob jeder Schritt und jeder Handgriff schmerzte. Er fühlte einen Anflug von Angst in sich aufkommen und ging hinaus in den Hof.

      „Wie geht es dir, Mutter?“

      Ernesto war in diesem Augenblick auch in den Hof getreten, hüpfte herum und wiederholte die Frage: „Wie geht es dir, Mutter?“

      Mutter lächelte etwas und ging über den Hof zu dem Platz unter ein paar losen Dachbalken, der die Küche darstellte.

      „Gut, ich bin nur etwas müde.“

      Sie öffnete eine Dose, blickte hinein und verschloß sie seufzend, bückte sich über einen Topf auf der Erde und erhob sich wieder.

      „Wir haben keinen Mais. Ich habe vergessen, daß er gestern zu Ende ging.“

      „Nein“, dachte David, „vergessen hast du das bestimmt nicht. Aber was hätte es schon ausgemacht, selbst wenn du dich daran erinnert hättest? Wir hatten auch gestern kein Geld.“

      Doch er sagte nichts, und Mercedes sprach weiter mit sich selbst, während sie suchte.

      „Na ja. Wir haben ein paar Bananen, das muß reichen. Sie machte Feuer zwischen den Steinen, die ihr als Herd dienten, und stellte den Topf darauf. Sie goß einige Tropfen Öl in den Topf und begann, die Bananen zu schälen. Das zischende Geräusch der bratenden Bananen erreichte David, als er sich gerade am Wasserhahn wusch.

      „Ist das das letzte Öl?“ fragte er.

      „Nein, wir haben noch ein paar Löffel.“

      David seufzte. Er hatte vorgehabt, heute direkt zur Schule zu gehen. Er konnte es kaum erwarten, Isabel und Victor das neue Lied vorzustellen, das er am gestrigen Abend noch zu später Stunde fertig geschrieben hatte. Es war das Lied, das noch für das Kabarett fehlte, und er war der Meinung, es sollte die beste und lustigste Nummer im Programm werden. Er malte sich genau aus, wie Isabel dazu singen würde und wie er und Victor währenddessen die Geschichte mimen würden. Eigentlich fehlte noch eine Person, um das Stück perfekt zu machen. Es war aber nun nicht mehr zu ändern, es war zu spät, um noch eine vierte Person zu finden, da nur noch eine Woche bis zum Fest übrigblieb.

      In der hinteren Hosentasche der verschlissenen blauen Jeans steckte der Notizblock mit dem neuen Text. Er strich zufrieden darüber, als er seine Hose anzog. Sie würden staunen, daß er fertig geworden war. Er malte sich Victors bewundernden Blick und Isabels Freude aus. Er mußte lächeln. Doch das Lächeln erstarb, als ihm seine schlafenden Geschwister wieder in den Sinn kamen. Er konnte nicht direkt zur Schule gehen. Ja, die Frage war, ob er überhaupt zur Schule gehen konnte. Aber er wollte gehen, er mußte einfach gehen. Er überlegte, daß er jetzt am Morgen einen Stapel Zeitungen verkaufen könnte, wenn er sich beeilte. Und mit einem kleinen bißchen Glück würde er am Nachmittag in der Werkstatt ein paar Reparaturarbeiten machen dürfen. Das würde wenigstens ein bißchen Geld einbringen. Er könnte das alles schaffen, vielleicht sogar noch die Probe am Abend. Sollte er Oscar zum Zeitungsaustragen mitnehmen? Er blickte zweifelnd zur Hängematte hinüber, wo sein vier Jahre jüngerer Bruder gerade aufzuwachen schien. Nein, allein konnte er schneller fertig werden, als wenn Oscar mithalf.

      Mit ein paar eiligen Schritten verließ David das Zimmer. Er fischte sich eine Banane aus dem Topf über dem Feuer, aber sie war noch zu heiß, um sie zu essen. Er warf sie zur Kühlung in die Luft und teilte seiner Mutter mit: „Ich hole jetzt einen Packen Zeitungen. Sag Oscar, daß er meine Schulsachen mitnehmen soll, wenn er losgeht.“

      Der Unterricht war schon seit einer halben Stunde in vollem Gang, als David schließlich ankam. Er klopfte nicht an die Tür, er öffnete sie lediglich und trat in die Klasse. Er entschuldigte sich nicht, blickte gar nicht zu Lidia hin, die der Klasse den Rücken zuwandte und Zahlen an die Tafel schrieb. Er stieg über unzählige Beine und rempelte viele Arme in dem viel zu engen Klassenzimmer an, bis er endlich auf seinen Stuhl neben Victor sank.

      „Aha. Du bist also auch schon da“, sagte Lidia, ohne sich umzusehen. „Hast du eine Erklärung?“

      „Nein“, antwortete David und beugte sich vornüber, um seine Schnürsenkel zu binden. Lidia drehte sich um und schaute ihn an. David band weiter. Lidia wartete. Als er fertig war, begegnete er ihrem Blick. Er konnte keinen Ausdruck in ihren Augen erkennen, sie schien abzuwarten.

      „Nein“, wiederholte David. „Es ist eben passiert. Ich kam zu spät. Ich habe auch kein Buch dabei, sehe ich...“

      Lidia legte die Kreide zur Seite und machte einige Schritte nach vorn.

      „Aber, David! Warum nicht? Du weißt doch, daß du jeden Tag das Buch dabei haben sollst.“

      „O.k.“, schrie David so laut, das die ganze Klasse zusammenzuckte. Bevor jemand in der Lage war, etwas zu sagen, war er an allen Armen und Beinen vorbei verschwunden.

      „Was ist denn mit dem los?“ flüsterte jemand vorsichtig.

      „Er geht natürlich sein Buch holen“, erklärte Lidia und wandte sich wieder der Tafel zu. „Wir rechnen derweil weiter.“

      Victor konnte sich schlecht auf die Zahlen konzentrieren. Er verstand nicht, warum sich David so aufführte. Erstens: David kam nie zu spät. Er bemühte sich mehr als die anderen, pünktlich zu sein. Zweitens: David vergaß nie seine Bücher. Das war noch nie dagewesen. Drittens: Nicht einmal mit einem Blick zu grüßen, das paßte nicht zu David. Er drehte sich zu Isabel, um zu sehen, ob sie genauso erstaunt war. Sie beantwortete seinen fragenden Blick mit einem unschlüssigen Achselzucken. Sie nahm ihren Bleistift und fing an zu rechnen.

      Dann kam David zurück. Lidia hatte recht behalten, er hielt die Bücher in der Hand. Bevor Victor mit der Aufgabe fertig war, hatte sie David sowohl abgeschrieben, als auch schon ausgerechnet. 15 600 schrieb er schnell und Victor seufzte über seine eigene Langsamkeit, während er weiterrechnete. Doch es stimmte, er bekam auch 15 600 heraus.

      David kümmerte sich nicht um Victor, der neben ihm saß. Nicht einmal, als sie die Mathematikbücher zuschlugen und als Lidia begann, über den Aufstand in Monibo zu erzählen, würdigte er ihn eines Blickes. Er war völlig mit sich selbst beschäftigt. Victor hatte den Eindruck, daß er nicht einmal Lidias Erzählungen folgte.

      „Die Leute von Monibo errichteten Barrikaden, um ihren Stadtteil, um sich vor der Nationalgarde zu schützen. Sieben Tage lang hielten sie stand, aber am 26. Februar 1978 brachen die Soldaten der Nationalgarde durch die Barrikaden und stürmten die Häuser. Viele Menschen wurden erschossen, zweihundert Jugendliche wurden gefangengenommen ...“

      Victor schielte zu David hinüber. Hörte er denn nicht, daß Lidia von Monibo erzählte, der alten Indianerstadt, in der David gelebt hatte, als das Schreckliche passierte? Seine Mutter war doch krank geworden, und die Kinder hatten damals bei Freunden gewohnt. David war gerade in die Stadt gekommen, als Victor und er sich zum ersten Mal trafen. Obwohl sie jetzt schon gut vier Jahre befreundet waren, wußte Victor nichts von dem, was David in Monibo erlebt hatte. Ob er an den Kämpfen teilgenommen hatte? Er hatte nie etwas davon erzählt.

      David war eigentlich gar nicht zu spät zur Schule gekommen. Gerade als es klingelte, eilte er in Oscars Klassenzimmer, um die Bücher abzuholen, die Oscar für ihn hatte mitnehmen sollen. Aber Oscar war nicht da. Davids Blick glitt über die engen Reihen der Zweitkläßler, und er fühlte die Wut in sich aufsteigen. Es war nicht das erste Mal, daß Oscar sich auf dem Weg zur Schule verirrte.

      Er fand ihn schließlich am Bahnhof. Völlig abwesend bewegte Oscar seine Füße über die Schienen zu einem Takt, den er nur selbst hörte. Er nahm nicht wahr, daß David auf ihn zukam. Er kam erst zu sich, als David ihn unsanft am Arm packte und kräftig

Скачать книгу