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Die Drachenkinder von Nicaragua. Annika Holm
Читать онлайн.Название Die Drachenkinder von Nicaragua
Год выпуска 0
isbn 9788711501221
Автор произведения Annika Holm
Издательство Bookwire
Großmutter setzte sich auf die niedrige Pritsche, streckte ihre Hände nach Victor aus und zog ihn hoch, bis er aufrecht saß. Langsam wiegte sie ihn ein paarmal hin und her. Dann stand sie rasch auf. Victor blinzelte und blieb sitzen. Er war jetzt wach.
„Ich habe deine Sachen gebügelt, aber zuerst mußt du Eier suchen gehen. Ich vermute, daß einige im Stroh hinter dem Haus liegen. Oder im Gebüsch unter dem Orangenbaum.“
Victor stand auf, auf einmal hellwach. Wie spät konnte es sein? O weh, warum war er bloß so ein Siebenschläfer?
Er stürzte in den Hof hinaus und fing an, die Eier zu suchen. Wunderbar, es lagen tatsächlich zwei im Stroh hinter dem kleinen Häuschen. Aber unter dem Orangenbaum waren keine. Die Hühner gackerten spöttisch um seine Füße herum und gaben ihm nicht den kleinsten Wink, als er herumwirbelte und suchte. Doch, da lag eines, neben der Pumpe. Ein seltsamer Platz, um Eier zu legen. Die Eier der Großmutter bringen, wieder zurück zur Pumpe, Wasser ins Gesicht und über den Oberkörper, wieder ins Haus, anziehen, los!
Nein, doch nicht! Er hatte Großmutter und das Frühstück vergessen.
Victors Großmutter war eine ungewöhnliche Frau. Sie hatte eine andere Meinung über das Essen als die meisten Mütter, die Victor kannte. Es gab nicht mehr zu essen bei der Großmutter als woanders, manchmal sogar weinger. Aber sie bestand auf dem Frühstück. Victor sollte ein ordentliches Frühstück zu sich nehmen, das aus mehreren Gerichten bestand: aus Eiern, gepreßten Orangen. Großmutter sprach von Vitaminen und Proteinen, Dinge, die niemand, den Victor kannte, jemals erwähnte.
„Wir sind zwar arm“, pflegte Großmutter zu sagen, „aber aus purer Unvernunft brauchen wir deshalb nicht zu verhungern. Besonders du nicht!“ Sie nahm sich viel Zeit, um die wenigen Dinge, die sie besaßen, zu pflegen: Sie lockerte die Erde rings um die Orangenbäume auf und legte den Mist der Hühner und Schweine in regelmäßigen Abständen dorthin. Sie goß fleißig die Maispflanzen und versuchte, die Hühner zu kurieren, wenn sie krank wurden; sie kratzte sogar das Schweinchen am Kinn, damit es fröhlich war, solange es lebte.
„Heute habe ich aber keine Zeit für das Frühstück“, widersprach Victor, als Großmutter ihn hereinrief.
„Hilf mir lieber, die Orangen zu pressen“, antwortete Großmutter ruhig und goß Eierteig in die Pfanne.
„Du läufst viel schneller zur Schule, wenn du was im Magen hast, das weißt du.“
„Dann darfst du nicht vergessen, daß du versprochen hast, Großvater bei der Reparatur der Nähmaschine heute nachmittag zu helfen. Vielleicht ist es ihm bis dahin gelungen, das fehlende Dingsda aufzustöbern.“
Victor liebte seine Großmutter, was auch immer geschah. Nicht einmal jetzt, da er nichts anderes wollte, als losrennen, konnte er sich über sie ärgern.
Seit Vaters Tod klammerte er sich an sie und an Großvater. Seine Mutter hatte sich den Guerillas angeschlossen, als Victor noch klein war. Es war so lange her, daß er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Man sagte, sie sei im Kampf gefallen, aber dafür gab es keine eindeutigen Beweise. Was wäre, wenn sie eines schönen Tages vor der Tür stünde? Vielleicht war sie in irgendeinem, schon lange zurückliegenden Kampf verwundet worden und hatte das Gedächtnis verloren? So etwas passierte im Krieg, hatte Victor gehört. Es wäre ja aber möglich, daß sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte, und deshalb nach Hause finden konnte!
Er stellte sich vor, wie sie vielleicht aussah. Er kannte kein Photo von ihr, doch seine älteren Brüder hatten erzählt, sie hätte große Ähnlichkeit mit Großmutter. Ähnliche Augen, ähnlicher Mund, ähnliches Haar. Er versuchte sich Großmutter zwanzig Jahre jünger vorzustellen, aber es war schwierig, sich ihre runzeligen Backen, den buckligen Rücken und die vorgebeugten Schultern wegzudenken. Er mußte darauf vertrauen, daß seine Mutter ihn wiedererkannte.
Nun reichte ihm Großmutter einen Teller mit Eiern und Reis. Victor tauchte aus seinen Gedanken auf und fing an zu essen. Es schmeckte, und er wollte kein einziges Reiskorn übriglassen, obwohl er es eilig hatte. Er kaute noch, als er draußen auf der Straße stand.
Der Staub wirbelte um seine Füße in der Märztrockenheit, und als ein Jeep vorbeifuhr, staubte es ihm sogar ins Gesicht. Er schloß den Mund, um die letzten Reiskörnchen zu retten, und rannte schneller. Während er lief, versuchte er seine Zähne vom Sand zu befreien, der doch in den Mund gekommen war. Er kicherte vor sich hin, als er daran dachte, was Großmutter den kleinen Nachbarkindern zu sagen pflegte, wenn sie die staubigen Reiskörner nicht hinunterschlucken wollten:
„Tut so, als sei es Zimt! Reis mit Zimt ist etwas ganz Leckeres.“
Noch ein Jeep fuhr vorbei, und Victor kniff seinen Mund zusammen. So würde es jetzt einen Monat lang weiter stauben, bis endlich im Mai der Regen kam. Am besten gewöhnt man sich daran, weil man doch nichts anderes tun kann, als den Mund fester zuzukneifen.
Er ging langsamer, als er die große Straße erreichte, die zur Stadt führte. Sie war mit Kopfsteinen bepflastert, und auf dem Gehweg standen in regelmäßigen Abständen Bäume. Hier war es nicht so staubig, und wenn er auf die andere Straßenseite überwechselte, brannte die Sonne nicht so heiß herunter.
Er blieb vor einer Werkstatt bei einem Ölfaß stehen und begann, auf den Deckel zu trommeln. Ein neuer Rhythmus, der gar nicht so schlecht klang: drei lange Schläge, dann ein Schlag im Gegentakt und zwei kurze! Plötzlich merkte er, daß etwas in seinen Rhythmus einfiel. Eine Autohupe mischte sich neckend unter seine Trommelschläge. Er blickte auf und sah in Lidias fröhliche Augen. Lidia war Lehrerin an der Schule. Sie saß am Steuer ihres Wagens, am Beifahrersitz ihr Mann Orlando.
„Klingt gar nicht so übel“, rief Lidia lachend und ließ die Hände von der Hupe. „Bist du zufällig auf dem Weg in die Schule? Dann hoch mit dir auf die Ladefläche.“
Dieser Tag fängt gut an, dachte Victor und sah den langen öden Schulweg rasch an sich vorbeifliegen. Nun würde er auch nicht auf den letzten Drücker kommen, sondern viel Zeit haben. Viel Zeit, um mit Isabel und David zu reden, bevor die Schule anfing.
David wachte nie von selbst auf. Nein, da hatte er keine Chance. Immer schaffte es ein anderer, der erste zu sein, zum Beispiel einer seiner kleineren Brüder, der dann auf seinen Bauch sprang oder ihn an den Füßen kitzelte. Heute früh war es Ernesto, der auf Davids Schultern saß. Er prustete vor Lachen, als David seinen Kopf hob und ihn mit seinen schwarzen Haaren am Bauch kitzelte.
„Weiter, weiter! Noch einmal!“
David stöhnte und versuchte, wieder einzuschlafen. Ernesto gab aber nicht auf. Er grapschte Davids Haare und spielte mit seinem dicken Schopf. David öffnete die Augen und beurteilte die Lage. Das Licht im Zimmer war noch grau, also noch etwas Zeit zu schlafen.
„Laß es sein“, zischte er laut genug, um Ernesto zu erschrecken, aber noch leise genug, um nicht den Rest der Familie zu wecken.
Ernesto umarmte David, kauerte sich dicht an seine Schultern und blieb eine ganze Weile ruhig liegen.
David konnte aber nicht mehr einschlafen. Er seufzte, schob Ernesto etwas zur Seite und lauschte den Schlafgeräuschen um sich herum. Ganz hinten aus der Ecke, wo seine Mutter zusammengekauert schlief, vernahm er ruhige Atemzüge. Daneben war der leere Schlafplatz von Ernesto, und vom unteren Ende des Bettes hörte er das Pfeifen von Pepe und Carmen. Die Hanfseile der Hängematte knirschten, sobald sich Oscar im Schlaf bewegte. Im Klappbett an der Seite röchelten Karla und Dora um die Wette, beide kämpften noch mit der gleichen hartnäckigen Erkältung. Draußen im Hof wühlte das Schwein in der Erde. Die Hühner waren ihm wohl dabei im Weg, denn sie gackerten plötzlich ganz aufgeregt. Halb sechs las David auf der Uhr, die er auch nachts nie abnahm.
Es war so, als ob er es laut ausgesprochen hätte, denn im selben Augenblick saß seine Mutter kerzengerade im Bett und fragte: „Ist es schon halb sechs?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, kroch sie über die schlafenden Kinder hinweg auf den