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haben! war alles, was unser schwäbischer Professor darauf mit entgeistert überschlagener Stimme hervorgebracht. Ich aber hatte mir’s gemerkt. Hielt mich also gut ab von den Fassaden, beiderseits indes sowieso abgestoßen von den mehlig bepuderten weiblichen Körperzierden, die sich über die Halbtüren reckten, legten, hängten. O je, waren das die ungebackenen Brote des Lebens? Ich spürte das Kopfsteinpflaster unter meinen Sohlen, als ginge ich über lauter dergleichen Unziemlichkeiten. Und hatte ich mich in den lauten Straßen nebenan vor den athletischen goldlitzenstrotzenden Portiers gefürchtet, hier schienen mir fürchterlicher die geschminkten Gesichter und die getürmten Frisuren, die nackten Schultern, die schwarzen Florhemden, aus denen die Brüste quollen. Ich wollte nichts sehen und sah alles, die formlosen Arme, die ordinären Gesichter, das Glitzern von Talmischmuck. Und ich hörte die Anerbietungen, die zu begreifen ich mich wehrte und dennoch mich krampfhaft lächelnd bemüht fand, ihre Saftigkeit zu genießen, so sterbensübel mir war.

      Die Gasse war ohne Passanten. Außer mir. Ich fand mich einer allgemeinen spöttisch gierigen Aufmerksamkeit ausgeliefert. Aber ich tat, als sei dieser fleischerne Markt, dieser zweiseitige Bilderbogen rüde besetzter Fenster- und Türöffnungen ein armer Hühnerstall gegen großartigere Gelände zu Bombay, Rio oder Funchal und als wisse ich solches nicht nur aus Matrosenberichten. Der schreckliche Bazar begann sich mir zum Karussell zu wandeln. Halt suchend starrte ich geradeaus, als habe ein Fenster da hinten meine Sonderneigung und sei mein Ziel. (Die Gasse krümmt sich dort gen Nord.) Eine – wie ich später erfuhr, behördlich vorgeschriebene – Jalousie war heruntergelassen, die Trallen waren ein wenig aufgestellt, die rote Beleuchtung dahinter und die dürftig mit netzartigem Tüll bedeckten Bewohnerinnen waren wie in blutige Streifen geschnitten. War dies das Leuchtturmlicht ungegorener Sehnsüchte? Die Farbe zeigte drohende Untiefen an. Ich zwang meinen Schritt ins Seebefahrene. Ich schwalkte männlich näher, die Biegung zu gewinnen. Da drinnen entstand Bewegung, sichtlich bestrebt, den Gast zu bewillkommnen. Mein Mut verpuffte wie der letzte Knallfrosch am Sedanstag. Wir hatten ihn als Kinder der Freien und Hansestadt immer hochpreußisch gefeiert. Scharf steuerbord! dachte ich nun: Um die Ecke und weg!

      In diesen braven Entschluß erklinkte eine Haustür. Sozusagen in meinem Nacken. Das Geräusch gemahnte mich an etwas Freundliches, an eine Gartenpforte. Sie hatte sich zur Kinderzeit bei Bekannten meiner großen Schwester zu paradiesischen Nachmittagen geöffnet. Nun erblickte ich ein Mädchen in Bluse und Rock und schlichtem Haar. Darüber am Gesims der Tür, die es aufgesperrt, schwebte eine große, grellgelbe Hausnummer. Mir erschien sie in diesem Augenblick wie eine Krone. Betroffen wollte ich dennoch vorbei. Da hörte ich sanft zu mir sprechen – ich wollte es nicht hören und hörte es doch –: „Komm herein, Hans!“

      Man wird verzeihlich finden, daß ich annahm, das Schicksal selber habe mich gerufen. Ich zähle nicht zur Phalanx der Hartgesottenen. Ich tat einen verlorenen Schritt. Ein einfaches bäuerliches Gesicht lächelte mich an, nicht gerade jung und nicht schöner als an der Küste üblich, blaßblond, blaßäugig, die Nase stupsig, der Mund nicht klein, doch nur wenig betüncht.

      Das alles sah ich, als müsse ich’s abschätzen. Hier war nichts Aufdringliches, nichts Erregendes und nichts, was abstieß, es war wie eine Zuflucht in der offenen Darbietung, mit der die übrige Straße sich herzubog; es war womöglich der einzige Weg, glimpflich davonzugelangen.

      Sie stieg vor mir eine Treppe hinauf. Ihr kurzer Rock aus rosa Seide pendelte über bloßen strammen Beinen. Ihre Schuhe, brüchiger Lack, hatten schiefe Absätze. Ach, ich hatte vernommen, daß der Ertrag der Liebe den Wirten und Wirtinnen der Freudenhäuser fast restlos zufließt. „Irma“, sagte sie, als hätte ich trotz meiner verschnürten Kehle gefragt. Wir betraten ein kleines Zimmer. Sie zog einen Vorhang zu, er war nur dünn, das graue Tageslicht filterte sich nebelnd herein. Was war draußen? Die weite Welt? Bombay, Rio, Rotterdam, die See und kleine Kindheitsgärten? Das Mädchen beobachtete mich aus den Augenwinkeln. „Nun?“, sagte es leise. Ich fühlte mich hilflos, tat aber gelassen, so, als sei es meinerseits ratsam, erstmal die Umgebung zu prüfen, und betrachtete das ungemachte Bett und darüber die Wand, wo auf handtuchgroßem Stück Stramin ein mit himbeerfarbenem Garn gestickter Spruch zu lesen war: Gute Nacht, Gott wacht.

      Die barocke Schnörkelung der beiden G war von nelkenartigen Rosen durchflochten. Gebannt hing mein Blick daran; es mochten auch rosenartige Nelken sein, ein rührendes Unterfangen, sich auf gitterigem Kanevas schöpferisch zu betätigen. Unterdes begann, nach einer aufmunternden Bemerkung, die Gefällige an mir herumzuknöpfen, äußerte auch mild eine leichte Enttäuschung über meine Unbereitschaft. Sicher, das fühlte ich, durfte von mir nun erwartet werden, etwas zur Förderung der Sachlage beizutragen. Somit brachte ich, als sei es eine Erklärung für mein Zögern, stotternd den Wunsch vor, die Gute möge sich entkleiden.

      Da denn also gewahrte ich zum ersten Male die lebendige, völlige Nacktheit des anderen Geschlechts; es bestürzte mich mehr, als daß es mich erbaute oder gar überwältigte, zumal die Willfährige kaum der Vorstellung entsprach, die sich mir aus älteren und neueren Kunstwerken gebildet hatte. Damals besaßen noch keine Gemälde, keine Plastiken kraft expressiver Maßnahmen die Fähigkeit, neben sich alles Lebendige als angenehm erscheinen zu lassen, selbst wenn es nur mangelhaft ausgestattet ist. Überdies war ich noch zu unreif, um die sonderlich sich mengenden Tinten aus Grau und Rot in dieser Kammer zu erfassen. Die Vorahnung unsäglicher Seligkeiten, der ich mich noch auf der Treppe zu befleißigen versucht, zerging in dem faden Geruch des erkalteten Bettes, den ein billiges Parfüm so geringfügig wie den der Entblößung zu überdecken vermochte. Soeben wehten die Stimmen des Hafens gegen die Fensterscheiben, grollend, lockend, höhnisch blökend; dann gnickerte ein Grammophonpolka unterm Fußboden, brach schrill ab, als sei die Platte geborsten. Keifen, Gelächter, Gerede, nahebei oder meilenfern, alles schien greifbarer als das, wo ich mich befand. Ich hatte mich auf den Rand des Lagers gesetzt, die Knie waren mir matt, ich zuckte die Schultern wie einer, der alles einkalkuliert hat.

      Meine Gastgeberin nahm schweigend einige ordentlich gelegte Wäschestücke aus einer Kommode und kleidete sich wieder an. Vielleicht war sie dem Empfinden des Peinlichen noch zugänglich, aber sie war geschickt genug, die ausgebliebene Wirkung ihres Entgegenkommens mit dem Hinweis zu bemänteln, sie habe sich ohnehin umziehen wollen. Indes mußte ich an den Altar und die Kindersärge denken.

      Auf der Kommode stak in einer fischgrünen, wellig geriffelten Kelchvase eine Hutfeder, deren Linie und Tönung an die Bäuche dockender Schiffe erinnerte. Daneben stand schräg ein silbrig bronzierter Jugendstil-Rahmen mit dem Foto eines Vollbärtigen. Er trug die Uniform der Eisenbahner. Und mochte der Vater sein. Doch fragte ich nicht danach. Es war nun überall still. Ich hörte meine Konfirmationsuhr aus der Weste ticken, so lautlos legten sich die dürftigen Hüllen zurück um das vergeblich gelüftete Geheimnis. Und das alles ging vor sich in Anwesenheit des Mannes auf der Kommode. Zwar ließ sein Ausdruck auf Behäbigkeit schließen, jedoch die Strenge, die den Uniformen anhaftet und Haltung verleiht, selbst, wenn sie unkriegerisch sind, war zu bedenken, und nicht minder die weiträumig technische Verkehrseinrichtung, die zu Lande so verbindend und so pünktlich ist und doch mit eigenen Gefahrenmomenten, darin sich dieser scharfrandig Bemützte sicher bewährt hatte oder noch bewährte. Zwei der Totgeburten waren übrigens durch ein Zugunglück ...

      „ Nun?“, sagte das Mädchen zum zweitenmal und strich glättend über den seidenen Rock. Damals wußte ich noch nicht, wie wundersam Frauen sich jeden Zweifels an der Richtigkeit jeweiliger Daseinszustände entheben können. Bestimmt auch muß man mehr unverdorben als abgebrüht sein, um zwischen einem frommen Spruch und dem Bildnis eines Nahestehenden einem Gewerbe obzuliegen, welches, allgemeiner Ansicht nach, das Wohlwollen himmlischer wie irdischer Väter schwerlich voraussetzen darf.

      Irma, die Unaufdringliche, wandte sich halb listig, halb verschämt wieder zu mir. Sie wippte leicht mit der Zungenspitze an ihrer Oberlippe entlang. Und flüsterte dann etwas, was ich damals nicht erfaßte. Mir stieg eine gänzlich abwegige Beziehung zur pfingstlichen Apostelgeschichte auf. In dieser bescheidenen Stube der Lust war mir, als sei jäh ein Auftrag angedeutet, der mit körperlichen Vorgängen nichts gemein habe. Als sei an meine heimliche Neigung zum Schreiben gerührt. Ja, als stehe dieses öffentliche Mädchen als Abgesandter der Öffentlichkeit vor mir, mir das Zutrauen auszusprechen. Kein Engel der Verkündigung hätte bestürzender und erhebender

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