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Die Leuenhofer. Ida Bindschedler
Читать онлайн.Название Die Leuenhofer
Год выпуска 0
isbn 9788726614886
Автор произведения Ida Bindschedler
Издательство Bookwire
,,Wir wollen aber doch noch auf dem andern Ufer heruntersuchen bis nach Mergendorf; vielleicht weiss man dort etwas.“
„Man hat hinunter telephoniert und nach Woltersheim auch“, erwiderte der Spenglermeister; aber die Burschen waren schon davon und der Schlossermeister Gehring, der Küfer Kübler und der Jakob Wisli gingen nach. ,,Man muss etwas tun. Nur so dastehen kann man nicht.“
Auf der halb überschwemmten Mergendorfer Strasse kam ihnen das Trüpplein Leuenhofer Kinder entgegen. Die Kinder waren im Morast und Gestrüpp gewatet, bis sie nicht mehr aus und ein wussten. Keinen Menschen hatten sie getroffen, der etwas gewusst hätte; nur immer das schreckliche Wasser hatten sie gehört. Da waren sie still gestanden, und Sara Wiebold, die auch mitgelaufen war, sagte plötzlich:
„Am Ende haben sie das Schiff längst drüben gefunden, und Ottilie ist schon daheim!“
Ganz erleichtert kehrten die Leuenhofer Kinder um.
Aber als sie im Städtchen anlangten, sahen sie in lauter erschrockene, traurige Gesichter. Jedes der Kinder lief heim, um zu erzählen. Dann aber trieb die Unruhe sie wieder hinaus. Auf dem Marktplatz beim Brunnen fand sich die ganze Leuenhofer Klasse zusammen. Die Buben berieten, wie man es hätte machen sollen mit dem Schiff.
,,Wenn wir dabei gewesen wären, so wäre es nicht so gekommen“, sagten ein paar Sechstklässler, worauf Netti aufs neue zu schluchzen begann.
Sara aber und die andern Mädchen verteidigten sie: „Ottilie hat selber das Seil locker gemacht!“
„Netti ist nicht schuld! Sie hat gehalten, was sie konnte, fast wäre sie noch mitgerissen worden!“
Jedesmal, wenn wieder Leute den Seckelweg heraufkamen, liefen die Kinder und die Erwachsenen, die unter der Türe standen, hinzu; aber keiner wusste etwas. Nur das erfuhr man, dass Herr Schwarzbeck und der Vater von Ottilie auch gegen Woltersheim hinunter seien. Herr Eggenberg habe gezittert und kein Wort geredet. Er hatte eine grosse Bäckerei und war sonst ein aufrechter, fröhlicher Mann.
Endlich gegen acht Uhr verbreitete sich eine Schreckenskunde: Es sei ein Bub gekommen aus der Nähe vom Sperberwinkel. Man habe Ottilie gefunden, aber wahrscheinlich tot. Die Mädchen weinten laut auf. Die Buben sahen einander starr an. Man konnte es nicht fassen. Vor vier Stunden noch war sie vor der Klasse gestanden und hatte da mit ihrer frischen, hellen Stimme die Johanna Sebus noch einmal lesen dürfen:
„Der Damm zerreisst, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.“
Und jetzt wusste man nicht gewiss, ob sie noch lebe. Es trieb die Leuenhofer in die Mahlergasse, wo der Eggenbergische Bäckerladen war. Keines redete, nicht einmal Sara. Sie spähten durch die halboffene Türe. Es waren viele Leute im Laden. Sie sprachen halblaut mit Luise, der Magd. Ottiliens Mutter war nicht da. Die Kinder hörten einzelne Sätze heraus:
,, . . . Hinten in der Stube . . . Und wenn sie nur weinen würde . . . Aber ganz starr sieht sie vor sich hin und sagt nur von Zeit zu Zeit: Ottilie . . . Ottilie . . .“
Da entstand eine Bewegung auf der Strasse. Herr Eggenberg und Herr Schwarzbeck kamen daher mit ein paar Männern, die eine leere Bahre trugen. Scheu wichen die Leute, die sich angesammelt hatten, aus.
Die Leuenhoferkinder aber drängten sich zu Herrn Schwarzbeck. Er gab allen schweigend die Hand. Dann schien es, als ob er etwas überlege. Er trat zu den Männern und sprach ein paar Worte mit ihnen; hierauf winkte er seine Schüler herbei.
„Wir wollen“ – man sah, dass er Mühe hatte zu sprechen – „wir wollen zusammen unsere Ottilie holen.“
Er übersah seine Leute und erwählte acht von den Sechstklässlern. Netti aber sah ihn mit verweinten Augen flehentlich an.
,,Herr Schwarzbeck darf – darf ich auch mit?“
Herr Schwarzbeck strich Netti über den Kopf. „Also dann Netti, Eva Imbach und Hedwig Bühler. Ihr seid ja Ottiliens Freundinnen.“
Die Mädchen nickten still. Vier von den Buben aber fassten die Bahre, und der kleine Zug ging die Riedauer Stalden hinunter. Hintendrein Herr Schwarzbeck und Ottiliens Vater.
Kein Wort sprachen die beiden Männer. Nur wenn die Leuenhoferkinder sich umwandten, sahen sie, dass Herr Schwarzbeck die Hand manchmal auf Herrn Eggenbergs Schulter legte.
Gustav Brenner aber erzählte mit leiser Stimme den andern. Seine Schwester hätte es von dem Buben aus dem Sperberwinkel gehört: Die Botenfrau habe Ottilie gefunden; sie wohne in einem einsamen Häuslein im Rappenfeld. Sie habe auch Holz aus dem Wasser gefangen, und wie sie so weiter gekommen sei, habe sie auf einmal in dem halbüberschwemmten Weidengestrüpp ein umgestürztes Schiff gesehen. Sie sei darauf zugegangen und habe das Kind gefunden. Es sei zwischen dem Schiff und einem alten Weidenstamm eingeklemmt gewesen und habe eine grosse Wunde am Kopf gehabt. Und wie die Botenfrau es hervorgezogen habe, da habe sie gemerkt, dass es kaum mehr atme. Er sei gerade das Rappenfeldersträsschen heraufgekommen und sie habe ihm gerufen, er solle nach Heimstetten laufen und sagen, was da für ein Unglück begegnet sei. Das Kind gehöre wahrscheinlich nach Heimstetten.
Schweigend hörten die Leuenhofer Buben und Mädchen zu. Es war nun fast völlig dunkel geworden. Am Himmel zogen schwarze, seltsame Wolkenfetzen dahin, und rechts unten hörte man die Illig brausen. Der Weg war schlecht; jeden Augenblick trat eines der Kinder in eine Lache, dass das Wasser hochaufspritzte. Wie hätte man sonst darüber gelacht und geschrien; aber jetzt war alles so traurig, so unheimlich.
Endlich kam man zu dem kleinen Haus der Botenfrau, das ganz einsam im Rappenfeld lag. Ein schwaches Licht schimmerte vom Fenster. Herr Schwarzbeck drückte auf die Klinke. Das Haus war nicht geschlossen. Still traten die beiden Männer in den dunkeln Raum ein bis zu einer Türe, aus der ein kleiner Lichtschein drang.
Herr Schwarzbeck sagte leise ein paar Worte zu Ottiliens Vater; dann klopfte er an.
„Herein!“ rief drinnen eine tiefe Stimme. Herr Schwarzbeck öffnete. Die Kinder, die die Bahre vor das Haus gestellt hatten, traten scheu hinter den zwei Männern in die Stube.
Eine grosse, starke Frau mit grauem Haar drehte sich um; sie war eben daran ein Tuch auszuwinden über einer Waschschüssel, die neben der Lampe auf dem Tisch stand. Und auf dem Bette lag Ottilie; ihr Gesicht war von der Lampe beleuchtet; ihre nassen Zöpfe lagen über dem blau und weissen Kopfkissen.
Beklommen sahen die Kinder hin – aber jetzt! Nein! war es möglich – sah man recht – jetzt schlug Ottilie die Augen auf und sah nach den Eintretenden.
Fast erschrocken schrien die Kinder auf: „Ottilie!“ Und „Ottilie!“ rief auch der Vater und stürzte gegen das Bett und kniete, um ganz nahe zu sein, nieder und streichelte sein Kind über das nasse Haar, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, dem starken Mann, der gewiss seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte.
Herr Schwarzbeck trat auch herzu: „Gott sei Lob und Dank! Kind, Kind“, sagte er, „welchen Schrecken haben wir um dich gehabt!“
Ottilie sah Herrn Schwarzbeck und versuchte zu lächeln. Dann aber ging ein schmerzliches Zucken über ihr Gesicht und sie schloss die Augen wieder.
„Ja“, sagte jetzt die Botenfrau „und wie bin ich erschrocken, als ich das Kind fand und es aufrichten wollte und es kein Lebenszeichen gab. Die Augen zu und ganz kalt! Da ist wohl keine Hilfe mehr, habe ich gedacht und als ich den Buben sah, hab ich ihn mit der Botschaft geschickt.“
Sie wechselte, während sie mit halblauter Stimme erzählte, das nasse Tuch auf Ottiliens Kopf. Da sah man die tiefe Wunde, die quer von der Schläfe nach vorn lief und aus der noch das Blut sickerte.
„O, o“, sagte Ottiliens Vater erschrocken. ,,Armes Kind! Aber ich hab dich wieder. Gott, o Gott! Ich hab dich wieder!“
Ottilie schien nicht zu hören, was gesprochen wurde; sie lag bewegungslos, wie im Schlaf.
„Ja“, fuhr die Botenfrau fort, „es ist mir leid. Sie haben etwas ausgestanden.“ Sie streckte