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über Bonasero Vessucci und beobachtete, wie sich dessen Brustkorb langsam bewegte. »Wir brauchen unbedingt Antworten«, sagte er. »Denn die beste Verteidigung ist es stets, den Gegner gut genug zu kennen, um seine nächsten Schritte vorhersagen zu können.«

      Jesaja hatte recht. Ihren Gegner zu kennen war entscheidend, wenn sie in den kommenden Auseinandersetzungen Erfolg haben wollten. Oft hielten sich Spezialeinheiten an eine feste Routine, weil sich diese in der Vergangenheit bewährt hatte, und irgendwann fand sie sogar Einzug in die allgemeinen Richtlinien. Aber nicht selten wurden genau diese Gewohnheiten vom Gegner aufgedeckt, der daraufhin Strategien erarbeitete und sie sich zunutze machte, und genau das war es, was die Vatikanritter tun mussten: Sie mussten lernen und zurückschlagen.

      Kimball wusste auch schon genau, wo er anfangen würde.

      Er würde mit Pinchas beginnen.

      Kapitel 9

      Die Explosion im Gemelli-Krankenhaus hatte insgesamt sechsundzwanzig Todesopfer gefordert. Weitere fünfzehn Personen waren verwundet worden, sechs davon schwer, und dreizehn Menschen galten als vermisst, zu denen acht Carabinieri gehörten. Die meisten Opfer, die bei dem Einsturz des Gebäudes ums Leben gekommen waren, waren unter dem Krankenhauspersonal und den Patienten zu beklagen. Die Carabinieri im Umkreis des Attentäters waren von der Explosion des Semtex sofort in den Tod gerissen worden.

      In den darauffolgenden Minuten bereitete man Bonasero Vessucci mit so viel Sorgfalt wie nur möglich darauf vor, transportiert zu werden, und betete, dass er die Fahrt unbeschadet überstand. Kimball, Jesaja und Leviticus fuhren zusammen mit dem Pontifex, der in einem kritischen, aber stabilen Zustand war, im Krankenwagen mit.

      Nachdem sie den Apostolischen Palast erreicht hatten, wurde der Papst vorsichtig in sein Appartement im dritten Stock gebracht.

      Im hinteren Teil des Palastes gab es eine Reihe angrenzender Räume, die man zu einer notdürftigen Krankenstation umfunktioniert hatte. Vitalparameter-Monitore, Sauerstoffflaschen, Messgeräte, Notstromaggregate und alles, was nötig war, um den Zustand des Papstes stabil zu halten, stand jetzt hier zur Verfügung. Trotzdem konnten die Räume natürlich nicht mit der Ausstattung des Gemelli-Krankenhauses mithalten.

      Die Sicherheitsmaßnahmen im Palast waren drastisch verschärft worden. Die Schweizergarde und die Vatikanpolizei fungierten als erste Verteidigungslinie entlang der Grenze zwischen Rom und der Vatikanstadt. Der Petersplatz und alle touristischen Ziele waren abgeriegelt worden und die Schweizergarde hielt an allen wichtigen Punkten wie dem Petersdom Wache. Eine Einheit der Vatikanritter, die aus zwölf Kämpfern bestand, bemannte außerdem die Eingänge und die Korridore zum Apostolischen Palast.

      Papst Pius lag jetzt in seinem eigenen Bett. Seine Atmung war weiterhin flach, aber gleichmäßig, seine Gesichtsfarbe allerdings immer noch grau. Kimball saß neben dem Bett und hatte eine Hand des Pontifex mit seinen beiden Händen umfasst, während er voller Trauer war. Er hatte schon Männer auf dem Schlachtfeld verloren und andere Vatikanritter begraben müssen. Er hatte Gott nie um Kraft gebeten, weil er fest daran glaubte, dass jeder Mensch in sich selbst die Seelenstärke finden musste, um weitermachen zu können. Er selbst hatte diesen Zustand der Erlösung, dieses umarmende Gefühl der Wärme und Göttlichkeit, welche die Vergebung und Erlösung mit sich bringen sollte, leider niemals erfahren.

      Doch jetzt schloss Kimball die Augen, senkte sein Haupt und bat zum ersten Mal in seinem Leben für einen Gefallen, aber nicht für sich selbst, sondern für den alten Mann, der in diesem Bett lag und all das Gute der Menschen repräsentierte.

      Als er sein Gebet beendet hatte, öffnete er die Augen und betrachtete seinen alten Freund, der wie ein Vater für ihn war. Dann fiel sein Blick auf das Beatmungsgerät und die Art, wie es sich regelmäßig hob und senkte und die schwachen Lungen des Papstes mit Sauerstoff füllte.

      »Es ist alles geregelt«, raunte Leviticus Kimball über die Schulter zu. »Die Sicherheitsmaßnahmen, die Stromversorgung … alles ist in Ordnung.«

      Kimball nickte und erhob sich, und während er sich zu seiner vollen Körpergröße aufrichtete, wurde wieder einmal offenbar, wie breit seine Schultern und seine Brust waren. Sanft legte er die Hand des alten Mannes neben dessen Körper ab und tätschelte sie noch einmal tröstend. Alles wird gut, Bonasero.

      Das Beatmungsgerät verrichtete weiterhin unbeeindruckt seine Arbeit.

      Kimball blickte jetzt Leviticus an. »Bist du bereit?«

      Leviticus nickte. »Natürlich.«

      »Dann holen wir uns mal ein paar Antworten.«

      Kapitel 10

      Es war eine ganze Weile her, seit Pinchas die Stimmen gehört hatte. Seit einigen Stunden saß er nun schon in der Gefängniszelle der Vatikanpolizei-Station, und seine Augen starrten ins Leere, als würde ein ganz besonderer Punkt an der Wand, den nur er sehen konnte, eine hypnotische Anziehungskraft auf ihn ausüben. Aber er war schon in Situationen wie dieser gewesen, eingesperrt in engen Räumen, in denen die Zeit keine Rolle mehr zu spielen schien, und wo Sekunden, Minuten, Stunden, ein Tag oder ein Monat zu einer Unendlichkeit verschmolzen.

      An die letzten drei Jahre seines Lebens besaß er nur noch wenige Erinnerungen und nur vage Bilder … kurze Ausschnitte von dunklen Schatten und dem Schmerz, den sie ihm bereitet hatten. Er erinnerte sich daran, dass er an den Knöcheln und Handgelenken gefesselt gewesen war, an den Hunger und den Durst. Er erinnerte sich an kurze Augenblicke, in denen verhüllte Gestalten in wollenen Kutten erschienen waren, deren Gesichter jedoch immer in der Dunkelheit verborgen geblieben waren.

      Und natürlich an die Stimmen und das grauenerregende Flüstern, das auf irgendeine Weise imstande gewesen war, alle Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit in ihm auszuradieren und ihm stattdessen Regeln eingepflanzt hatte, die ihn fortan ohne die Angst vor Konsequenzen oder moralischen Fragen beherrschen sollten.

      Vage Bilder.

      Unendlich viel Zeit.

      Aber nicht alles war ausgelöscht worden.

      Er erinnerte sich nämlich noch an Kimball Hayden – erinnerte sich an ihn als einen Mann, der so verloren war wie er selbst. Er wusste noch, wie er neben dem Hünen gekämpft hatte, und konnte Bruchstücke der Kämpfe vor sich sehen.

      Doch dann verschwanden die Bilder plötzlich und sein Verstand wurde vollkommen leer, bis es nichts mehr gab außer einem mentalen Vakuum.

      Als er hörte, wie die Tür entriegelt wurde, nahmen seine Augen seine Umgebung in sich auf und sahen, wie sich eine Reihe von Bolzen zurückzogen und sich die Zellentür öffnete. Drei Beamte der Vatikanpolizei betraten nun den Raum. Einer von ihnen hielt einen Taser in der Hand, ein anderer einen Schlagstock, und der Dritte Ketten und Fußfesseln. Als der Polizist die Ketten anhob und auf Italienisch Befehle erteilte, verstand Pinchas sofort das Wesentliche von dem, was er ihm sagen wollte: Wir können es auf die einfache oder auf die harte Tour angehen. Es liegt ganz bei dir.

      Nach einem weiteren Blick auf die beiden Polizisten, die mit Schlagstock und Taser bewaffnet waren, fügte sich Pinchas und ließ sich die Fesseln widerstandslos anlegen.

      ***

      Kimball und Leviticus saßen in einem kleinen Vernehmungsraum ohne Fenster und mit Wänden, von denen bereits die Farbe abblätterte. Über ihnen hing eine Kamera, an der ein rotes Licht leuchtete, und in der Mitte des Raums befand sich ein Edelstahltisch, der fest mit dem Betonboden verschraubt war.

      Nachdem die Beamten Pinchas in das Zimmer gebracht hatten, setzten sie ihn an den Tisch und ketteten ihn an einen metallenen Ring in der Mitte des Tisches an. Dann verließen sie den Raum und schlossen die Metalltür hinter sich.

      Pinchas sah die beiden ihm gegenübersitzenden Menschen an, sagte aber kein Wort, er starrte sie einfach nur mit einem leeren Blick an.

      »Pinchas«, begann Kimball tonlos, »ich brauche dringend Antworten … und du wirst sie mir geben.«

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