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Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Wilhelm Bartsch
Читать онлайн.Название Das bisschen Zeug zur Ewigkeit
Год выпуска 0
isbn 9788711448472
Автор произведения Wilhelm Bartsch
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Gleich würde noch Streusandkisten-Evi auftauchen und sich neben mich auf die Lehne des Sofas und also ganz oben in die Zimmerecke hocken, und zwar ziemlich krumm, denn wir Sofalehnensitzer mussten bereits aufpassen, nicht mit den Köpfen an Tante Herthas Zimmerdecke zu stoßen. Evi ist schon fast so groß wie ich, wenn sie auch erst zwölf ist. An meiner anderen Seite ist wie schon gesagt auf Ernas Foto Nummer eins Keule zu sehen, mein viel mehr als nur anderthalb Jahre jünger als ich wirkender Bruder Hartmut, der aber hinter meinem Rücken schon an der Pulle »Eberbräu« nuckelt, die uns Dreien Heinz Spelinski augenzwinkernd zugesteckt hatte. Mit Keule teilte ich einige unter altersmäßig so nahen Brüdern auch ein bisschen peinliche Erfahrungen mit Streusandkisten-Evi, oft erworben im Reigen mit anderen Teilhabern der kindlichen Doktorspiele aus dem Stadtteil Westend.
Evi hatte dieses Spiel nicht Doktorspiel, sondern immer »Adam und Evi« genannt. Beim ersten Mal – und das glücklicherweise allein mit ihr – hatte Evi ein Kastanienblatt dabeigehabt. Wenn ich mich traute, dieses »feige Blatt«, wie Evi es nannte, am Stiel mit dem Mund wegzunehmen, durfte ich gleich da unten bleiben und ganz schön gucken und rummachen.
Ich hatte allerdings mit elf, als das geschah, noch geglaubt, das Ding, worauf es alle menschlichen Männchen absahen, wäre unter dem Bauchnabel angebracht, schon weil mein großer Bruder Tücki statt »ficken« lieber »nageln« sagte. Das fand ich fast ebenso furchtbar wie das, was sie mit Großvaters Christus gemacht hatten. Ich staunte nicht schlecht, dass Evis »Schlitz mit Katscher«, wie wir Kinder das nannten, erst einmal scharf um die Ecke nach hinten abbog, ehe es bei ihr rein ging. Evis streusandkühles und schräges Sesam erschien mir trotzdem gleich als die lieblichste Missbildung der Natur, die ich bis dahin gesehen hatte, wenn auch nur mit meinem Mittelfinger.
Ganz vorne im Bild haben mein Großvater Thürk und seine Luise natürlich die beiden Fernseh-Ehrensessel bekommen, nachdem wir zusammen mit Erwin als Letzte bei Tante Hertha eingetroffen waren. Meine Tante Hertha und ihre Freundin Erna, eine ewige Jungfer, die wir der Einfachheit halber auch gleich zur Tante ernannt hatten, sitzen auf der Liege. Das erkennt man auf dem Foto daran, dass neben Tante Hertha die einzige Lücke zu sehen ist, die durchs Fotografieren entstandene Ernalücke.
Vor Tante Hertha liegt ohne Kissen Heinz Spelinski, der hagere Maurer, Tante Herthas Wer-weiß-was, den mein Bruder Hartmut und ich seltsamerweise nur beim Skaten »Onkel Heinz« nannten und der sich stur saufend stets das Unglück erspart hatte, die Bauwerke des Sozialismus mit nüchternen Augen betrachten zu müssen, etwa seinen Russenflughafen Werneuchen, den er mehr mitgekleckert als -geklotzt hatte, mit schönen lang anhaltenden Mauscheleien im Gefolge bis in alle Kommandanturas weit und breit. Sein Bier hatte Heinz natürlich in der Hand, den Kasten in Griffnähe.
Neben den Tanten sitzt der Schlossereiinhaber Sitzlack, der auch eine Skathalle mit vielen dort frei herumfliegenden Papageivögeln besaß, weshalb die Skatspieler sich Gummimäntel von der kahlen Wand nehmen konnten gegen die Kackegeschosse. Deshalb gab es das Bier auch nur in Flaschen mit Schnappverschluss. Sitzlacks Bernhardiner Asbach vom Dreikanthof ist mit nur einer Pfote zu sehen. Ich weiß noch, dass er die einzige Person war, die nicht in die Glotze stierte, sondern auf uns alle, und zwar mit einem schönen Wechselspiel kritisch erhobener Augenbrauen. Der Hund hielt uns alle eindeutig für so blöd wie wir ihn für niedlich.
Auf die Couch hatten auch noch die drei Dudas gepasst. Aber wo, bitte schön, ist Nora? Sie schien damals noch so unscheinbar und farblos, dass bestimmt einer von den vorlauten Dersinskis auf ihr sitzt, ohne es zu merken. Und natürlich ohne einen Mucks von Nora.
Ich möchte gar nicht mehr glauben, wer da so alles reingepasst hat in Tante Herthas Bude, nur weil damals dort zwischen den beiden Fensterchen der Superwestfernseher von Grundig stand, den, wer sonst, Ursel und Lilo spendiert hatten, die in Westberlin Haus und Hof ihrer im Krieg gefallenen Gatten ganz langsam und gemütlich verprassten.
Ich möchte auch gar nicht so recht den Tante-Erna-Bildchen vertrauen. Sie existieren nämlich gar nicht mehr. Wir haben sie wohl zu oft in die Hände genommen und abgegriffen, schäbig und knickrig gemacht, und dann, von wem auch immer, sind sie achtlos verlegt oder sogar weggeschmissen worden. So verschwindet das Allerallermeiste von der Welt, samt Fotos und Fotografinnen, und vielleicht sollten wir alle wieder lernen, Platz zu machen auf Erden für das, was kommt. Aber in meinem Kopf spuken diese Fotochens noch herum. Zuweilen ist wohl da mehr drauf auf den Fotochens in meinem Kopf, als überhaupt einmal da gewesen war. Ebensogut könnte aber auch was fehlen. Und noch was: Meine Erinnerung macht nur Farbfotos, und zwar in 3D, mit Ton und Geschmack und mit dem Tastsinn auch. Deshalb kann sie auch Schmerzen bereiten. Aber das Gegenteil davon natürlich auch.
Schließlich war noch Platz gewesen für die herumfuchtelnde und unendlich quarzende dicke Dame Kandula vom DFD-Kreisvorstand, die ihre angekettete Riesenbrille oft von ihrer Nase auf die gepanzerten Titten stülpte, als ob die auch mal den Mist ringsrum in der noch nicht so recht sozialistisch sein wollenden Welt gucken sollten. Die Dame Kandula war nicht auf Ernas Fotochens drauf gewesen, aber sie war damals da, das weiß ich noch genau!
Die Dame Kandula hatte werweißwas mit Tante Hertha oder auch Erna zu schaffen. Ihr Töchterlein Marion jedenfalls schien dort so was von fehl am Platz. Marion hatte wunderbare Augen, was man auf Ernas Gespensterbildchen nun gar nicht mehr sehen konnte, wie soeben reif gewordene Brombeeren mit lauter Stacheln ringsrum im Raureif, wenn das Thermometer um dreißig Grad gefallen ist unter einem Froststern, den man fünf Minuten früher noch ahnungslos für die Sonne gehalten hätte. Die wusste wohl schon, was uns Hüpferlinge juckig machen konnte! Sie stand plötzlich mit verschränkten Armen im Türrahmen und verstand hervorragend das Kunststück, ihre Blicke schweifen zu lassen, ohne auf eins der anderen siebzehn Augenpaare zu treffen. Auch nicht auf meins.
Aber an meinem rechten Fuß war noch eine Lücke für einen kleinen Hintern, den eine Hose aus Großrundstrick wohl nicht im Mindesten daran hindern konnte, zugleich fest und sahneweich zu sein.
Aus dem Fernseher krähte und näselte gerade ein Heiterkeits-Onkel aus dem Friedrichstadtpalast auf uns ein. »Nee, der Gerd Schäfer wieder!«, rief Vater Dersinski, und der Inhaber Sitzlack fügte mehr für sich hinzu: »und schon wieder in seiner Rolle als Arschloch«. Marion setzte sich tatsächlich mit ihrem so schutzlosen Hintern auf meinen Fuß!
Evi, Hartmut und ich hatten als Sofalehnensitzer unsere Schuhe natürlich draußen vor der Tür gelassen, und wohin so schnell mit dem rechten Fuß, wo der große Onkel durch die tausendmal gestopfte Ringelsocke lugte? Mein großer Onkel tat so, als sei er plötzlich hervorragend gestopft und verhielt sich wohlig stille. Aber ein bisschen aufrechter als seine anderen vier Brüder stand er schon herum in dieser schönen Gegend, wo Blinde auf einmal sehend werden.
Ich langte verstohlen nach unten zu meiner linken großen Zehe und war bemüht, den gepanzerten Kugelhintern von Marions Mutter dabei nicht zu streifen. Ich musste doch prüfen – weil Rabenmutti bei mir auf rein gar nichts guckte –, ob ich nicht wieder mal Klauen wie Dracula dran hatte. Es ging aber so, und ein bisschen hervorragende Härte konnte ja vielleicht sogar ganz gut sein, wie auch die kleine runde Härte der beiden Zigarettenglutlöchlein in meinem Nyltesthemd, denn in das Löchlein unter meinem Bauchnabel schlüpfte etwas hinein und wuselte da herum, ein schlimmer kleiner Finger, der aber leider nicht Marion, sondern dem Sandkasten-Evchen gehörte.
Doch dem stocksteifen Dummkopf da unten mit seinen immer ganz plötzlichen 40 Grad Fieber war es wohl piephahnegal, zu wem ein Fingerchen und ein »Schlitz mit Katscher« gehörten. Auf einmal gab es eine Art Shakehands da unten in Marion. Und dann gleich noch einmal. Mein Zeh bedankte sich und guckte schon mal irgendwie über irgendeine Hausschwelle, von wo es allmählich bis ins Herz von Marion ging.
»Sing ein Lied, sing ein Lied, little Banjo-Boy«, sangen im Fernseher gerade Jan und Kjeld, die Banjo-Boys aus Kopenhagen, und mein Zeh wiegte sich schon ein bisschen zu der Melodie, obwohl nicht so recht davon begeistert. Da herrschte dann erst einmal eine etwas beleidigte Stille im Vorraum zur prickelnden Fabrik von Rundstrickhausen.
Evi neben mir kicherte.