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Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Wilhelm Bartsch
Читать онлайн.Название Das bisschen Zeug zur Ewigkeit
Год выпуска 0
isbn 9788711448472
Автор произведения Wilhelm Bartsch
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Großvater qualmte dazu aus immer ein und derselben schmurgelnden Tabakspfeife seinen billigen »Kolumbus Silber« und schluckte hin und wieder sein Bier. Luther im Himmel hatte es wohl täglich verhindert, dass der ganze Laden einfach in die Luft flog. Auf dem öfters von alleine vor sich hin schollernden Klavier hinten in der Ecke lagen ungefähr zwei Dutzend Bände von Gustav Hempels grün-goldener Goethe-Ausgabe wie frisch gehacktes Holz durcheinander und dazu noch eine verhunzte Prachtausgabe von Dantes »Göttlicher Komödie«, die so was von aus dem Leim gegangen war, dass sie eine Art Grabhügel aus lauter losen Blättern bildete, unter dem nun sämtliche Gebeine von Himmel, Hölle und Fegefeuer ruhten.
An diesem mit lauter Erscheinungen zusammengeballten 16. Oktober 1965 hatte ich nachmittags auf Großvaters Werktisch ein neues, bereits gerahmtes Bildchen liegen sehen. Er hatte lange keines mehr gemacht. Er hatte seine zehntausend Mal gebissene und gewickelte Stummelpfeife gezeichnet, nichts weiter. Beunruhigend war nur, es kam kein Rauch mehr raus. Schlimmer noch, die Piepe lag jetzt dort oben auf dem Dante-Hügel.
Und mir schmeckte auf einmal mein sechster Wandschlitz nicht mehr. Ich hörte da hinten im Dunkeln was, das längst nicht mehr nach der Ausgießung des heiligen Eberswalder Hells klang. Konnte es sein, dass die Dunkelheit ganz leise weinte? Jäh war mir bewusst, dass bald einer von uns sterben würde. Und vermutlich war das nicht ich.
Schnell war ich am Wäschehaus und ertastete mir von der Dunkelheit ein Stückchen, nämlich vom neuen schwarzen Stoff, in dem prall mein Großvater steckte.
»Fränzchen!«, rief Großvater ganz leise und verzweifelt, »ich krieg ihn einfach nicht mehr rein!«
»Opa?«
»Der schitt Reißverschluss. Früher hatten Sängerhosen noch ehrliche Knöppe! Hol ma Oma!«
Aber da war sie schon, ich roch es am winzigen und bei ihr seltenen Wölkchen von Tosca, ich trat beiseite – eben erstmals gealtert und traurig –, weil sich nämlich in der Zukunft, die immer gerade beginnt, wirklich ein Abgrund befindet, in den wir alle, alle nacheinander fallen oder auch gestoßen würden, Großväter, Großmütter, Nymphen, selbst Kinder, die noch gar nicht richtig gelebt haben.
Dann ging es nach der sachkundigen Befreiung des eingeklemmten Dingens von Großvater doch noch los, die drei Häuser weiter zu Tante Hertha, zu »Da lacht der Bär«. Ich weiß nicht, was mich damals noch einmal umkehren ließ zu meinem Leckschlitzen in der Wand.
»Wann bin ich endlich kein Kind mehr, Opa?«
»Wünsch dir das man bloß nicht allzu sehr. Es ist so: Dein Kindheitsengel steigt auf in den Himmel, aber das merkst du gar nicht, Fränzchen. Dann kappt er einen von den beiden Fäden am Lenkdrachen. Auf einmal fühlst du dich schwerer. Und dann solltest du mal ein Bandmaß nehmen und deine Größe messen. Diesen Tag lang bist du, obwohl nun erwachsen, nämlich genau drei Zentimeter kleiner.«
»Quatsch, Opa. Und der andre Faden vom Lenkdrachen? Opa?«
»Den hältste einfach feste, Fränzchen.«
»Wie lange denn?«
»Na, bis deine Nymphe kommt … Wenn se kommt.«
»Ich will aber keene Nümpfe, Opa. Die gehn mir auf ’n Keks!«
»Wirste schon sehn«, hatte Großvater damals, lang lang her, gesagt und mit seinem merkwürdigen Berliner Strahleblick hoch in die Ferne geschaut und dann unverständlich leise was in seine Bartstoppeln gemurmelt.
Ich glaube, es war der Vers von Dante, der aus dem »Paradies«: »Hier unten sind wir Nymphen, oben Sterne.«
Es war meine Nasenspitze, die meinen sechsten, meinen jüngsten Spalt im Mauerputz antippte. Ich musste auf einmal, hätte ich lecken gewollt, meinen Hals recken.
Ich war schwer beeindruckt, sauer und traurig. Ich mochte all diese Spielchen und augenzwinkernden Großvaterwunder nicht mehr sonderlich. Und ich wollte nicht wahrhaben, dass ich an jenem dunklen Oktoberabend längst um Großvater Thürk zu trauern begonnen hatte. Vielleicht ist es ja genau das, was man so »Erwachsenwerden« nennt?
Was sollte ich nun überhaupt noch bei »Da lacht der Bär«? Ich wusste doch hundertprozentig, dass Bob Dylan niemals auftreten würde in einer Sendung, wo der Berliner oder auch der russische Bär so tun, als ob sie lachen würden.
Als ich kurz vor Tante Herthas Haustür als frischester Erwachsener der Welt noch über all das nachdachte, spürte ich drei kleine Piekser in meinem Rücken.
»Hallo, Effeff!«, sagte Erwin Hagedorn, der Klassenkamerad meines Bruders, »Hartmut hat gesagt, ich darf mitkommen zu Popp Tilly!«
Damals war Erwin fast noch ein puttenhafter Knabe mit einem Igel, besser gesagt mit einem Stachelschwein. Er konnte nicht nur gewinnend, sondern manchmal sogar besiegend lächeln. Er griff sich beidhändig unters Hemd und zog aus seinem Hosenbund zwei nagelneue »Jerry Cottons« hervor. Ich staunte, hatte ich doch die vier schon ziemlich zerlesenen Micky-Maus-Hefte vermutet, die ich ihm gestern an unserer Haustür in einem Anfall von Gönnerhaftigkeit geschenkt hatte.
»Ein Sarg hat keinen Notausgang!«, sagte Erwin triumphierend. »Schiffe, Schätze, scharfe Schüsse!« Er streckte mir die Hefte entgegen. »Und obendrauf noch ›Kradschützen im Kosakenland‹!« Das Landser-Heft war schon bleich und lasch und in der Mitte tief eingerissen.
»Das kannste am besten gleich übern Russenzaun schmeißen«, sagte ich. »So ein scheiß Zeug handle ich erst gar nicht.«
Erwin schlug »Kradschützen im Kosakenland« auf und las mit einer plötzlich unvermutet tiefen und überzeugenden Stimme: »Wir stecken bis über die Radnaben fest im fetten schwarzen Dreck, den die hier gern ›Heimaterde‹ nennen. Hier wären aber selbst die berittenen Kosaken zu schiefen Reiterstandbildern erstarrt.«
»Behalte die ›Jerry Cottons‹ auch nach Mitternacht bei dir und zeig sie keinem«, sagte ich. »Her mit dem Landserheft, das wird gleich entsorgt. Wenn du mit mir zusammenarbeiten willst, dann lass dir nie wieder so ein Ding andrehen, verstanden?«
»Du hältst mich wohl auch für blöd«, sagte Erwin, ließ es aber geschehen, dass ich ihm seine »Kradschützen« entriss. Die waren mal was, um Fritze Henke, den Damenfriseur gegenüber meiner Straße, zu ärgern. Der war nämlich Muttis neue kleine blonde bleiche Flamme, und Fritze war angeblich, sagte Mutti, auch Kradschütze im Krieg gewesen.
»Na, mal sehn«, sagte ich. »Klingle in ein paar Tagen bei mir damit, dann unterhalten wir uns weiter. Noch was. Das sind ganz gute Stücke, diese ›Jerry Cottons‹, die knickt man nicht hinterm Hosenbund.«
Kaum jemand ahnte, dass ich der vielleicht größte Schmökerhändler meiner Heimatstadt war, weil mich vor allem meine Großtanten Ursel und Lilo mit dem Zeug so gut versorgten.
»Pass uff, Franzilein!«, hatte Lilo eines Tages auf Besuch zu mir gesagt, »Landser jibt’s nich, Bastei Heimat jibt’s nich, Western jibt’s nich, Butler Parker und John Kling jibt’s nich.«
»Silbern klingend heiter schlug die kleine Uhr – Mitternacht, als …«, hatte ich nämlich den Anfang eines John Klings mit dem Titel »Das Skelett im Wandschrank« zitiert.
»Kofferweise Micky Mäuse – dit ja«, ergänzte Ursel.
»Und ›Jerry Cotton‹ und den ›Kommissar X‹ – wat andres krichste nich«, sagte Lilo.
Die beiden Großtanten konnte man wirklich immer nur zu Boden knutschen. Wenn ich vor dem Mauerbau bei ihnen in Westberlin gewesen war, auch mal einen Tag allein, dann stellten wir immer was an – früh um acht gleich zum Schlammcatchen aufs Tempodrom, danach zu »Kranzler« und ins Kino am Zoo zu Disneys »Schneewittchen«. Einmal hatten wir sogar den Platzwart vom Olympiastadion mit zehn Mark bestochen. Meine Großtanten und Kriegerwitwen hatten ihre Röcke gerafft und mein jubelnder Beifall hatte sie die ganze Zeit begleitet, die sie brauchten auf ihrer Ehrenrunde mit ihren saukomisch trippelnden dürren Beinchen.
Meine Großtantensympathie war an dem Abend jedenfalls auf Erwin übergesprungen.