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Vernünftige: sie führte den Rest ihrer Klasse durch die herandrängenden Menschen auf den jenseitigen Bürgersteig.

      Aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, als sie befahl: »Lauft zur Schule, holt eure Sachen und dann nach Hause! Beeilt euch und seid vorsichtig. Eure Eltern erwarten euch schon!«

      Sie wandte sich ab, taumelte zur Fahrbahn zurück.

      Die Neugierigen wichen zur Seite, machten ihr eine Gasse. Sie merkte es nicht. Sie taumelte weiter, fiel neben einem der verstümmelten Kinder in die Knie.

      Es war Rosel Wünning. Ihr rechter Arm lag seltsam verrenkt neben ihr, um ihren Hinterkopf mit dem leuchtend roten Haar hatte sich eine Blutlache gebildet, ihr zartes Gesichtchen war schneeweiß. Die hellen kleinen Sommersprossen wirkten jetzt wie dunkle Tupfen.

      Susanne Schäfer versuchte instinktiv, ohne zu wissen, was sie tat, den Puls des Kindes zu spüren. Aber die empfand nichts als die unendlich gähnende Leere in ihrem eigenen Herzen, einen saugenden Abgrund, der sie zu verschlingen drohte.

      Nicht einmal das grelle Signal des Martinhorns gelangte in ihr Bewußtsein.

      Sie spürte kaum die hilfreichen Hände, die sie hochrissen. Ihre Beine waren seltsam taub, gefühllos, wie gelähmt.

      Männer in weißen Kitteln, Tragen zwischen sich, liefen hin und her, schafften die schwerverletzten Kinder fort. Dunkle Flecken von Blut blieben auf dem Pflaster.

      Ein Mann in Polizeiuniform stand vor Susanne Schäfer, ein geöffnetes Notizbuch in der Hand. Er hatte ein braunes, ausdrucksloses Gesicht. Sie verstand, was er sie fragte.

      »Sie sind also die Lehrerin? Nun erzählen Sie mal … wie konnte das denn passieren? Wo haben Sie gestanden … und die Kinder?«

      Sie verstand jedes Wort, und sie glaubte sogar, ihm zu antworten. Sie öffnete die Lippen, quälte sich, alles zu erklären, und begriff nicht, daß sie nichts als ein tonloses Würgen herausbrachte.

      »Ihren Namen … sagen Sie mir Ihren Namen«, drängte der Polizeibeamte, »den werden Sie doch wissen!«

      Im gleichen Augenblick erschien ein Mann im weißen Kittel neben dem Polizisten, ein Mann mit klugen durchdringenden Augen in einem kantigen Gesicht, das beinahe häßlich hätte wirken können, wenn es nicht soviel Güte ausgestrahlt hätte.

      »Das hat keinen Zweck, Herr Wachtmeister«, sagte er, »merken Sie denn nicht, daß die junge Dame beim besten Willen nicht aussagen kann?«

      »Aber … sie ist doch völlig unverletzt!«

      »Körperlich vielleicht, aber seelisch hat sie was abgekriegt. Nervenschock.«

      Susanne Schäfer sah die Spritze in der Hand des Arztes, sah sie übermächtig auf sich zukommen – der weiße Kittel, das kantige Gesicht des Polizisten, die Häuser, der eben noch blaue Himmel, alles färbte sich in einem blutigen Rot, das sich rasch verdunkelte, bis tiefe, nachtschwarze Dunkelheit sie gnädig auffing.

      3.

      Als Susanne Schäfer erwachte, lag sie in einem schmalen Krankenzimmer. Sie sah den Bettisch, den Schrank, das Waschbecken, sah das Kreuz über der Tür und begriff nicht, wo sie war, noch wie sie hierher gekommen war.

      Unsicher bewegte sie ihre Glieder unter der weiß bezogenen Decke. Ihr Kopf schmerzte, als wenn er von einem eisernen Ring zusammengepreßt würde. Sie hob die Hand, tastete an die Stirn – sie war nicht fieberheiß, wie sie erwartet hatte, sondern kühl, von leichtem Schweiß bedeckt.

      Nein, sie war nicht krank. Aber dann – ein Unfall?

      So jäh, daß es sie zurückwarf, war die Erinnerung wieder da: der Zebrastreifen, die Kinder, die zum jenseitigen Bürgersteig hinüber liefen, der Lastwagen, das Quietschen der Bremsen, die verrenkten, beschmutzten, blutenden kleinen Gestalten auf der Fahrbahn.

      »Nein«, stöhnte Susanne Schäfer, »nein!« Sie schlug die Hände vor die Augen, als wenn sie so das Bild, das sich tief in ihrem Herzen eingeprägt hatte, auslöschen könnte.

      Sie hatte Sehnsucht zu weinen, aber ihre Augen blieben trocken, und das Schluchzen, das sie schüttelte, brachte ihrem Leid keine Linderung.

      »Nein, oh, nein!« stammelte sie immer wieder, warf sich zur Seite und barg ihr Gesicht in den Kissen.

      Auch als sie hörte, daß die Tür aufging, leichte rasche Schritte sich näherten, brachte sie nicht die Kraft auf, sich umzudrehen.

      Sie spürte warme, kräftige Hände auf ihren Schultern, hörte eine männliche Stimme, die ihr vertraut war, obwohl sie nicht wußte, woher sie sie kannte.

      »Schaun Sie mich doch an, Fräulein Schäfer, bitte! Ich bin sehr froh, daß Sie aufgewacht sind … fühlen Sie sich besser?«

      Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, sah das nicht schöne, aber ungemein sympathische Gesicht des jungen Arztes vor sich.

      »Ich bin Dr. Herzog, Wendelin Herzog«, sagte er.

      »Meine Kinder«, brachte sie mühsam hervor, »was ist mit meinen Kindern!?«

      Er wich dieser Frage aus. »Daran sollten Sie gar nicht denken!«

      »Aber ich muß, Herr Doktor … ich muß es wissen! Rosel, Petra, Clärchen … was ist mit ihnen?«

      Und als der Arzt schwieg, schrie sie auf: »Sind sie tot?!«

      Dr. Herzog setzte sich auf den Rand des Bettes. »Gott hat sie zu sich genommen«, sagte er, »er wird wissen, warum er es getan hat. Es war nicht Ihre Schuld, Fräulein Schäfer.«

      »Alle?« fragte sie benommen. »Alle?«

      »Zwei sind nur verletzt. Wir haben sie zusammenflicken können.«

      »Die Eltern …« Susanne Schäfer richtete sich auf. »Man muß die Eltern benachrichtigen …«

      Dr. Herzog legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Das ist längst geschehen.« Er drückte sie in die Kissen zurück. »Es ist ein Besuch für Sie da. Wenn Sie ihn sprechen möchten …«

      »Oskar? Oskar Wünning?«

      »Ja.« Dr. Herzog stand auf, gab der Schwester, die sich bisher unbemerkt im Hintergrund gehalten hatte, einen Wink, die Tür zu öffnen.

      Ihr Verlobter trat ein.

      Unwillkürlich streckte Susanne Schäfer beide Arme nach ihm aus, wie eine Ertrinkende, die auf Rettung hofft. Aber um seinen Mund lag ein fremder Zug, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.

      Susanne Schäfers Arme sanken, ohne daß es ihr selber bewußt wurde, kraftlos herab. In ihrem schneeweißen blutleeren Gesicht wirkten die grauen Augen übergroß und sehr dunkel.

      »Guten Tag, Susanne!« Die Stimme Dr. Oskar Wünnings klang heiser, er räusperte sich. »Na, wie fühlst du dich?«

      Sie sah ihn nur an, ihre Lippen bewegten sich, aber sie war außerstande, auf diese unangebrachte Frage zu antworten.

      Der junge Arzt mischte sich ein. »Fräulein Schäfer hat einen schweren Schock erlitten«, erklärte er.

      Oskar Wünning fuhr herum. »Das haben wir wohl alle!«

      »Einen Schock im medizinischen Sinne«, erklärte Dr. Wendelin Herzog sehr beherrscht, »ich kann Ihnen nur wenige Minuten geben. Dr. Wünning, und, bitte, regen Sie die Patientin nicht auf.«

      Von einer Sekunde zur anderen war eine feindselige Spannung zwischen den beiden Männern entstanden, für die sie selber keine Erklärung hätten geben können.

      »Darf ich Sie bitten, mich mit Fräulein Schäfer allein zu lassen?« fragte der junge Rechtsanwalt eisig.

      Dr. Herzog zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Wie Sie wünschen«, sagte er dann, verbeugte sich knapp, wandte sich ab. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

      Susanne Schäfer atmete tief durch. »Oskar …« sagte

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