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      Jetzt war sie vorne angekommen, legte ihre Mappe auf das Katheder, grüßte laut: »Guten Morgen, Kinder!«

      Wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin erwiderte die ganze Klasse im Sprechchor: »Guten Morgen, Fräulein Lehrerin!«

      »Setzt euch!«

      Aber zu Susanne Schäfers Verblüffung machte die ganze Klasse keine Anstalten, diesem gewohnten Befehl nachzukommen. Sie blieben stehen, 42 Jungen und Mädchen zwischen acht und neun Jahren, schlanke und dicke, blonde und braune, blasse und rosige, und alle hatten ein verschmitztes Lächeln um die Lippen, einen triumphierenden Glanz in den Augen.

      Peter, der Klassenbeste, sprang vor, fuchtelte mit dem Lineal in der Luft herum, als wenn er ein ganzes Orchester dirigieren wollte.

      Auf sein Zeichen hin brüllte die Klasse los: »Wir gratulieren zur Verlobung!«

      Im gleichen Augenblick zauberte Rosel, die rothaarige Rosel Wünning, Tochter von Dr. Oskar Wünnings Bruder, dem Apotheker, einen Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor. Es war der seltsamste Strauß, den Susanne Schäfer je gesehen hatte, Garten-, Wiesen- und Waldblumen waren bunt durcheinander gemischt, die Stiele verschieden lang, kurzum, es war ein Strauß, zu dem wohl jedes der Kinder ein paar Blumen gemäß seinen Möglichkeiten beigetragen hatte. Susanne Schäfer hatte sogar den Verdacht, daß einige der wundervollen Rosen aus dem Kurpark stiebitzt waren.

      Aber ihre Freude war so groß wie ihre Überraschung. Strahlend nahm sie den Strauß entgegen, beugte sich zu Rosel herab, küßte das kleine Mädchen, das nun bald ihre Nichte werden sollte, auf die Wange.

      »Na so etwas!« sagte sie. »Das habt ihr aber schnell herausgekriegt!« Sie wußte, leugnen war diesen neugierigen, unerbittlichen Kinderaugen gegenüber zwecklos, und jede Frage nach der Quelle dieses überraschenden Wissens beantwortete sich von selber: natürlich war es Rosel gewesen, die die große Neuigkeit aus einem Gespräch der Erwachsenen aufgeschnappt und sogleich unter den Kameraden und Kameradinnen ihrer Klasse verbreitet hatte.

      Jetzt quittierten sie alle Susanne Schäfers ehrliche Verblüffung mit einem vergnügten Gelächter.

      »Da staunen Sie, was?« rief ein kleiner Naseweis aus der letzten Reihe.

      »Ja, wirklich«, sagte die junge Lehrerin, »ihr wart mehr als fix. Aber tatsächlich bin ich noch gar nicht wirlich verlobt …«

      »Oh doch!« rief Rosel dazwischen. »Mein Vater hat’s erzählt!«

      »Dein Onkel Oskar und ich, wir wollen uns verloben«, stellte Susanne Schäfer richtig, »die Verlobungsfeier wird Anfang der großen Ferien sein. Deshalb ist es vielleicht ganz gut, daß ich sie schon heute mit euch feier. Wie wäre es, wenn ich euch jetzt eine schöne Geschichte erzählte?«

      Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung.

      »Also, setzt euch!« sagte Susanne Schäfer.

      Sie schloß den Klassenschrank auf, nahm eine ziemlich häßliche Keramikvase, die Stiftung einer Mutter, heraus, drückte sie Rosel zum Wasserholen in die Hand. Die Kleine lief auf den Flur hinaus.

      Die anderen hatten inzwischen Platz genommen. Aber wenn Susanne glaubte, die Kinder abgelenkt zu haben, dann hatte sie sich geirrt.

      Petra, ein Mädchen mit dunkelbraunem, leicht gelocktem Haar, hob lebhaft den Finger.

      »Ja, Petra?« sagte die Lehrerin ermunternd.

      »Wann werden Sie denn heiraten, Fräulein?« wollte Petra wissen und errötete über ihre eigene Frage.

      »Das hat noch lange Zeit«, erklärte Susanne Schäfer freundlich, »vorläufig bin ich ja noch nicht einmal richtig verlobt.«

      »Aber wenn Sie mal erst verheiratet sind«, rief der lange Klaus dazwischen, »dann kommen Sie doch nicht mehr in die Schule!«

      Diese Bemerkung hatte einige betrübte. »Och’s« zur Folge.

      »Nur keine Angst«, sagte Susanne Schäfer lächelnd, denn die Anhänglichkeit ihrer Kinder tat ihr wohl, »so schnell werdet ihr mich bestimmt nicht los.«

      »Erst wenn ein Baby unterwegs ist, nicht?« rief Rosel, die gerade mit der gefüllten Vase in der Hand in das Klassenzimmer zurückgekommen war.

      Die Kinder begannen auf dieses Stichwort hin sofort eifrig miteinander zu diskutieren.

      »Ruhe, bitte!« mahnte Susanne Schäfer. Sie zog es vor, auf Rosels altkluge Bemerkung nicht einzugehen. »Schönen Dank fürs Wasserholen«, sagte sie, »so, und nun stellen wir die Blumen hinein … und jetzt, marsch ab auf deinen Platz! Seid ganz still und sperrt die Ohren auf, damit ihr über die Geschichte, die ihr jetzt hören sollt, eine nette Nacherzählung machen könnt …« Sie erstickte die enttäuschten Proteste mit einer Handbewegung und begann: »Es war einmal eine Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte …«

      Und während sie weiter erzählte, glitt ihr Blick über die blanken, erwartungsvollen Gesichter ihrer Kinder, die sie alle so gut kannte und von denen keines dem anderen glich, und sie fühlte bei allem Glück ein tiefes Bedauern, diese jungen Menschen und den Beruf, den sie sich erwählt hatte, bald aufgeben zu müssen.

      2.

      Die großen Ferien rückten naher und näher und mit ihnen der Tag der offiziellen Verlobung, sie war für den ersten Samstag nach Schulschluß festgesetzt worden.

      Susanne Schäfers Freude war mit banger Erwartung gemischt. Oskar Wünnings Eltern hatten darauf bestanden, zu diesem Anlaß die ganze Familie zusammenzutrommeln: Sie würde also nicht nur vor den Wünnings, die sie kannte, sondern noch vor mehr als dreißig entfernteren Familienmitgliedern bestehen müssen. Dadurch wurde es ihr doppelt deutlich, daß sie selber eine Waise und ganz allein auf sich gestellt war. Mit den wenigen, sehr entfernten Verwandten, die sie besaß, hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr.

      »Mach dir nichts draus, Liebling«, sagte Oskar Wünning, als sie einmal versuchte, ihm ihre Unsicherheit klarzumachen, »keine Verwandtschaft ist immer noch viel besser als eine miese. Außerdem … du hast ja mich, und wenn wir erst offiziell verlobt sind, wirst du ganz zu uns gehören.«

      Diese Zugehörigkeit zu einer der angesehensten Familien der kleinen Stadt bekam die junge Lehrerin schon jetzt zu spüren, denn natürlich war es kein Geheimnis geblieben, daß sie den zweiten Sohn des Ratsapothekers heiraten würde.

      In den Geschäften wurde sie mit einer ganz neuen und ungewohnten Zuvorkommenheit bedient. Menschen, die sie vorher gar nicht beachtet hatten, grüßten sie jetzt auf der Straße. Die Kolleginnen verbargen einen gewissen Neid hinter honigsüßer Freundlichkeit, die Kollegen plusterten sich auf, als wenn sie sich selber beweisen müßten, daß sie es noch jederzeit mit einem gewissen einheimischen Rechtsanwalt aufnehmen könnten.

      Unverändert in ihrem Benehmen blieben nur Frau Schmitt und Rektor Kagerer.

      Die Wirtin hatte sich zwar zu einer Art von Gratulation aufgerafft, aber sie konnte, obwohl doch alles gegen sie sprach, das Unken nicht lassen. Ihr abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber den Männern war eben nicht so leicht zu erschüttern.

      Rektor Kagerer, Susanne Schäfers direkter Vorgesetzter, ein ruhiger, bedachtsamer Mann, war bekannt für seinen unbeugsamen Gerechtigkeitssinn, den er auch bei dieser Gelegenheit wieder bewies. Er behandelte Susanne nicht eine Spur anders als seine anderen Junglehrerinnen, mochte sie auch so gut wie verlobt mit einem geachteten Sohn der Stadt sein. Für ihn blieb sie in erster Linie Lehrerin, und für ihn zählte nur, was sie in ihrem Beruf leistete.

      Die Kinder hatten noch eine Zeitlang über die Veränderung im Leben ihres »Fräuleins« geschwätzt, in Ecken zusammen gestanden und miteinander gekichert, aber als sich Susanne Schäfers Benehmen und Auftreten so gar nicht änderte, begann die Sensation allmählich zu verblassen und ihren Reiz zu verlieren. Wenn sie vorne am Katheder stand und in ihrer freundlichen, aber sehr bestimmten Art Unterricht erteilte, dann war es fast unmöglich, sie sich als verliebte Braut vorzustellen.

      Mitte

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