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war gewiss einem ideologischen Extremismus geschuldet, der die Exzesse jener Jahre wesentlich verschärfte. Aber Fanatismus und ein ins Pathologische gesteigerter Machtmissbrauch allein genügen keinesfalls als Erklärung. Es waren nicht bloß LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Gefolgsleute und einige seiner sadistischsten Vollstrecker, die jegliche Hemmungen verloren. Gegner wie Befürworter der alten Ordnung erfasste ein in weiten Teilen der Bevölkerung seit Langem verbreiteter Hass. Auch das veranschaulichen die Ereignisse von Jekaterinburg: Als die Zarenfamilie Ende April 1918 an ihrem letzten Internierungsort eintraf, erwartete sie eine wütende Menge. Schon damals wurde ihr Tod gefordert. Es ist keine Überraschung, dass viele der Romanows, die mit der ständigen Gefahr der Lynchjustiz konfrontiert waren, seit geraumer Zeit mit dem Schlimmsten rechneten.

      Georgij LwowLwow, Georgij J. (Fürst) (1861–1925) war vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem als liberaler Parlamentsabgeordneter aktiv. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Paris.

      Ein anderer Prominenter, der in Jekaterinburg festgehalten wurde, war Fürst Georgij LwowLwow, Georgij J. (Fürst). Er hatte es für kurze Zeit sogar zum russischen Premierminister gebracht. Nach seiner Amtszeit verzweifelte er an der um sich greifenden Brutalität, die das Land heimsuchte. LwowLwow, Georgij J. (Fürst) wollte darin die Rache der über Jahrhunderte Unterdrückten erkennen. Und er war nicht der einzige, der so dachte. Der Schriftsteller Maxim GorkiGorki, Maxim betrachtete die meisten Russen als »Sklaven von gestern«, die erst spät von der Leibeigenschaft befreit worden waren und sich nun, da sie Macht über andere erlangt hatten, einer zügellosen Gewaltherrschaft hingaben. Gerade Gebildete und Angehörige der russischen Oberschicht [12]trugen auf solche Weise den gängigen Klischees vom »Moskowiterreich« Rechnung. Die jahrhundertealte Gegenüberstellung von der höheren Zivilisation des Westens und der Rückständigkeit und Brutalität, dem Schmutz und der Anarchie des Ostens hatte in den Augen vieler Zeitgenossen sowohl in Russland als auch im Ausland durchaus ihre Berechtigung.

      Die Entwicklungen ab 1917 schienen unzählige vorhandene Ressentiments zu bestätigen. Diese konnten sich mit nationalistischen und rassistischen Strömungen verbinden und beeinflussten letztlich auch die späteren nationalsozialistischen Mordfantasien vom »slawischen Untermenschentum«.

      Parallel dazu steigerte sich ein bereits allgegenwärtiger Judenhass. Die Pogrome der Vergangenheit lebten auf dem Territorium des untergegangenen Zarenreiches in neuen, bislang ungekannten Dimensionen wieder auf. Nicht wenige glaubten, die »Mosaischen« hätten den Monarchen und seine Familie abgeschlachtet. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, hieß es, sei der Jude »Jankel JurowskijJurowskij, Jakow«. LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Schergen hielt man für Exponenten der jüdischen Weltverschwörung.

      [13]Langlebige und grenzüberschreitende Stereotypen des Antisemitismus, verbunden mit dem Feindbild des »jüdischen Bolschewismus«: ein Plakat zur Ausstellung »Der ewige Jude« in München, eröffnet am 8. November 1937

      [14]Das Schreckbild des »jüdischen Bolschewismus«, das weit über Russland hinaus Wirkung zeigte, entbehrte jedoch jeder Grundlage. Zwar hatten sich angesichts des offenen Antisemitismus im früheren Zarenreich zahlreiche Juden Reformen erhofft, und manche hatten sich deswegen oppositionellen und revolutionären Kräften angeschlossen. Abgesehen von einigen prominenten Parteiführern blieben Juden aber auch in diesen Bewegungen in der Minderheit. Vielmehr wurden die meisten Angehörigen der jüdischen Bevölkerung als politisch Unbeteiligte vollkommen unschuldige Opfer von Gerüchten, Vorurteilen und Feindseligkeiten. JurowskijJurowskij, Jakow und die meisten anderen wiederum, die im »Haus zur besonderen Verwendung« Dienst getan hatten, waren ethnisch gesehen Russen und hielten übrigens – trotz ihrer Hinwendung zu den atheistischen LeninLenin, Wladimir Iljitsch-Anhängern – noch mehrheitlich am christlich-orthodoxen Glauben fest. Dass bis heute maßgebliche Kirchenkreise in Russland die Schreckenstat von Jekaterinburg als Beispiel eines »jüdischen Ritualmordes« deuten und damit antisemitischen Verschwörungstheorien Vorschub leisten, erscheint daher absurd.

      Ein Körnchen Wahrheit steckt hingegen in der oft kolportierten Behauptung, die Gräueltaten seien Fremden bzw. Ausländern anzulasten. Es dienten ungarische Soldaten in jenen Wachmannschaften, die die Zarenfamilie im Auge behalten sollten. Auch spricht manches dafür, dass sich ein Österreicher dem Mordkommando JurowskijsJurowskij, Jakow angeschlossen hatte. Wie aber waren Staatsbürger der Habsburgermonarchie in den fernen Ural gelangt? Und wie war es möglich, dass sich vor den Toren Jekaterinburgs 1918 vor allem Tschechen als militärische Gegner der Bolschewiki formierten? Darauf wird in der Folge genauer einzugehen sein.

      Offensichtlich wirkten sehr viele verschiedene Faktoren in jenen Sommertagen des Jahres 1918 zusammen. Innere Aufstände bedrohten LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Regime ebenso wie ausländische Kräfte. Wenige Tage nach dem Zarenmord eroberten die erwähnten Tschechen Jekaterinburg. Ein ohnehin zur Gewalt neigendes, nun um sein Überleben kämpfendes kommunistisches Regime schreckte jetzt erst recht nicht mehr vor äußerstem Terror zurück. Die Grausamkeiten trugen dabei bisweilen Züge eines finalen Racheaktes vor dem befürchteten eigenen Untergang. Auch das ist eine durchaus berechtigte Lesart der Jekaterinburger Mordnacht.

      [15]Aber wie steht es mit den nicht zuletzt von gebildeten Russen vertretenen Ansichten über einen im eigenen Land besonders verbreiteten Hang zur Barbarei? Entsprechende Mythen ranken sich gerade auch um das Ende der Zarenfamilie und die Gewalt der Bolschewiki. Dennoch ist das gefährliche Gemisch aus Vorurteilen, Aggressionen und Katastrophennachrichten, das sich unter anderem im Sommer 1918 offenbarte, wohl weniger auf eine bestimmte Mentalität, sondern auf allgemeine Eskalationsdynamiken und Gewaltspiralen zurückzuführen. Dergleichen ist auch andernorts gerade für bewaffnete Auseinandersetzungen mit einer starken Einbindung der Zivilbevölkerung und namentlich für Bürgerkriege mit bisweilen drastischen Tendenzen zur weltanschaulichen Polarisierung typisch gewesen.

      »Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Dieser Satz des preußischen Generals und Militärtheoretikers Carl von ClausewitzClausewitz, Carl von ist wohl einer seiner meistzitierten. Daraus lässt sich ableiten, dass der Griff zu den Waffen kaum jemals von sozialen Einwirkungen zu trennen ist. Der Krieg ist eben »nie ein isolierter Akt«, wie ClausewitzClausewitz, Carl von gleichfalls festhielt. Vielleicht konnte er noch nicht ahnen, wie sehr er mit Blick auf die Welt nach ihm Recht behalten sollte. Der industrialisierte »Volkskrieg« der Massenheere, der fast alle gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen in den betroffenen Ländern verschlang, mutierte tendenziell zu einem »totalen Krieg«. Aus ihm – das darf niemals vergessen werden – gingen in der »europäischen Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs ab 1914 Revolutionen hervor. Damit begann in Russland eine der schlimmsten Menschheitstragödien, die sich schwerlich zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lässt: Das einstige Zarenreich versank in Chaos und enthemmter Gewalt.

      Mehr noch als der ohnehin kaum begrenzbare Schlagabtausch regulärer Armeen auf dem eigentlichen Schlachtfeld ist jeder Bürgerkrieg dazu prädestiniert, die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Bereichen zu verwischen. Allerdings lässt sich das Geschehen im untergehenden bzw. untergegangenen Zarenreich bis 1922 nur unzulänglich mit den Worten »Russischer Bürgerkrieg« erfassen. Auch das wird genauer zu behandeln sein.

      Kenner der Ereignisse sprechen oft lediglich von der »Zeit der Wirren«, da sich die Konflikte nicht auf eine Konfrontation zwischen »Roten« und »Weißen« reduzieren lassen. Rote, das waren zunächst die [16]Bolschewiki und jene, die sich der Regierung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch anschlossen bzw. ihr zuarbeiteten. Letztere gehörten auch anderen sozialistischen Parteien an, die den neuen Machthabern zumindest zeitweilig folgten, bis sie gleichfalls zu Opponenten wurden. Die Weißen wiederum schlugen im Kern einen scharf antibolschewistischen Kurs ein. Die damit gemeinten Gruppierungen setzten sich vorwiegend aus ehemaligen Offizieren der Zarenarmee zusammen und vertraten reaktionäre, konservative und nationalliberale Positionen. Daneben gab es aber auch »rötliche« antibolschewistische Streitparteien, »grüne« Bauernrebellen, Bauernarmeen, Agrarsozialisten, Autonomisten und Separatisten, jeweils mit ihren regionalen und nationalen Farben, Banden und Warlords, die sich bisweilen unter den

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