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      Hannes Leidinger

      Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922

      Reclam

      Kriege der Moderne

      Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

      Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0870-01)

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Coverabbildung: Bewaffnete Soldaten der Roten Armee auf einem Panzerzug. picture-alliance / Mary Evans Picture Library

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961818-0

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011308-0

       www.reclam.de

      [7]1 Höllenszenen

      Kellerraum im Haus des Nikolaj IpatjewIpatjew, Nikolaj in Jekaterinburg, in dem die Zarenfamilie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 ermordet wurde

      Er bat um eine Wiederholung dessen, was er gerade vernommen hatte. Mehr aber als ein verstörtes, stotterndes »Was?« brachte er nicht mehr hervor. Kurz darauf trafen Nikolaj RomanowRomanow, NikolajNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), den früheren Zaren Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), gleich mehrere Kugeln. Der einst beinahe allmächtige Herrscher des russischen Imperiums sank taumelnd, mit leerem Blick und blutüberströmt zu Boden. Die bewaffneten Männer hatten seinen Tod beschlossen, mit Billigung ihrer Anführer und Vorgesetzten. Und nicht nur er, sondern auch seine Frau, seine Kinder und seine letzten Getreuen sollten sterben. Der Koch Iwan CharitonowCharitonow, Iwan, der Diener Alexej TruppTrupp, Alexej und die Hofdame Anna DemidowaDemidowa, Anna erlitten ebenfalls tödliche Verletzungen.

      Die Barbarei der Exekutionen wurde durch ein infernalisches Durcheinander noch gesteigert. Einige der tödlichen Projektile flogen als Querschläger im Raum herum. Ein Schütze verletzte sich an der Hand. Der sich bekreuzigenden Zarin wurde in den Kopf geschossen. Hirnmasse und Blut spritzten aus ihrem zerschmetterten Schädel. Der Lärm [8]wurde ohrenbetäubend, Pulverdampf und Staubschwaden nahmen allen die Sicht. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, der Leiter des Hinrichtungskommandos, ordnete eine Unterbrechung an. Die Türen des Kellerraums, aus dem das Schluchzen, die Schreie und das Stöhnen der noch lebenden Opfer drangen, öffneten sich.

      Kurz darauf setzten die Schützen ihr blutiges Treiben fort. Jewgenij BotkinBotkin, Jewgenij, der Leibarzt der kaiserlichen Familie, hatte sich noch einmal erhoben und fand nun den Tod. Weitere Schüsse prallten indes an den Kleidern der Zarenkinder ab, doch die in ihre Gewänder eingenähten Juwelen schützten sie nur kurz. Ein besonders rücksichtsloser Gehilfe JurowskijsJurowskij, Jakow stach mit dem Bajonett auf den dreizehnjährigen Zarewitsch AlexejZarewitsch Alexej (Sohn Nikolaus' II.) ein. Die noch unverletzten Töchter OlgaOlga (Tochter Nikolaus’ II.), TatjanaTatjana (Tochter Nikolaus' II.) und AnastasiaAnastasia (Tochter Nikolaus’ II.) klammerten sich schreiend aneinander. TatjanaTatjana (Tochter Nikolaus' II.) traf nun ein Schuss in den Hinterkopf, OlgaOlga (Tochter Nikolaus’ II.) ein weiterer ins Gesicht. Auf MariaMaria (Tochter Nikolaus’ II.) und AnastasiaAnastasia (Tochter Nikolaus’ II.) gingen die Mörder mit Bajonett und Pistolen los. Nach zehnminütiger Raserei glaubten die Mörder, alles sei vorüber. Doch beim Hinaustragen der Leichen begannen zwei Mädchen zu keuchen. Wieder kam das Bajonett zum Einsatz. Einige Täter übergaben sich, liefen davon. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, der unterdessen die Sicherung der Wertsachen, vor allem der Edelsteine, überwachte, konstatierte trocken, dass das Umbringen keine leichte Sache sei.

      Um drei Uhr morgens, am 17. Juli 1918, verließ ein mit Leichen beladener Lastwagen das »Haus zur besonderen Verwendung«, wie die Täter den Schauplatz der Metzelei in Jekaterinburg im Ural nannten. Die sterblichen Überreste verschwanden im nahegelegenen Wald.

      Ein Porträt von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) und seiner Familie anlässlich des dreihundertjährigen Thronjubiläums der Romanows 1913

      Am selben Tag, um 23 Uhr, wurden die erst kürzlich aus Jekaterinburg in den rund 160 Kilometer entfernten Bergbauort Alapajewsk gebrachten Verwandten des Zaren geweckt. Die sechs Angehörigen der Romanow-Dynastie ließen sich widerstandslos abführen, mit einer Ausnahme: Der Cousin des letzten Monarchen, Sergej MichailowitschSergej Michailowitsch, sträubte sich gegen sein Schicksal, das die anderen – ebenso wie die meisten Opfer von Jekaterinburg – ebenfalls erahnten. Ein Handgemenge entstand, ein Schuss in den Oberarm machte den Widerspenstigen gefügig. Der bereitstehende Pferdekarren brachte die Großfürstinnen und Großfürsten zu einer Eisenmine. SergejSergej Michailowitsch widersetzte sich erneut. Durch einen Kopfschuss starb er vor den Augen der übrigen Opfer. Anschließend wurden die Frauen mit Gewehrkolben niedergeschlagen [9]und in einen Schacht gestoßen. Danach widerfuhr den Männern dasselbe Schicksal. Die Täter aber erschraken: Anders als sie es erwartet hatten, lebten die Malträtierten noch. Stimmen waren zu hören. Also wurden Granaten in den Schacht geworfen. Doch nun drang der Psalm »Hilf deinem Volk« an die Ohren der Mörder. Schließlich füllten sie die Mine mit Holz und zündeten es an. Im dichten Rauch erklang nach wie vor der Gesang – bis es still wurde.

      Um die Geschehnisse im Ural entstand eine oft pietätlose »Schaurigkeitsindustrie«, die mit Verklärungen und Idealisierungen der Opfer einherging. Zu Recht erinnern manche Historiker und Historikerinnen daran, dass damals sehr viele andere Menschen unter mindestens ebenso schrecklichen, wenn nicht schlimmeren Umständen zu Tode kamen. Dennoch sind die Vorgänge in Jekaterinburg und Alapajewsk aussagekräftig, weil sie das Ausmaß und den Charakter der Gewalteskalation in [10]jenen Jahren, speziell in den Regionen des untergegangenen Romanow-Imperiums, vor Augen führen. Der Furor der Revolutionäre traf unterschiedslos Frauen, Männer und Kinder, Gesunde und Gebrechliche, Junge und Alte. Die Qualen der gefolterten und ermordeten Zarenfamilie standen für den Massenterror, der letztlich zur Auslöschung ganzer Gesellschaftsschichten führte. Die Schicksale der Romanows waren beispielhaft, die Morde von Alapajewsk und Jekaterinburg keine Einzelfälle. Zuvor hatte man bereits Großfürst MichailMichail (Großfürst, Bruder Nikolaus’ II.), den jüngsten Bruder von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), gemeinsam mit seinem Sekretär bei Perm erschossen. Monate später starben Cousins des Zaren in der Peter-und-Paul-Festung in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Zwar konnten andere Mitglieder der einstigen Herrscherdynastie entkommen, doch die neuen Machthaber, die Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch LeninLenin, Wladimir Iljitsch, wollten die gesamte Großfamilie ausrotten.

      LeninLenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924) spricht vor Arbeiter- und Soldatenräten. Der Parteiführer der Bolschewiki hieß eigentlich Wladimir I. Uljanow und war seit dem Ende der 1890er Mitglied der russischen Sozialdemokratie. Bis 1917 befand er sich zumeist in der Emigration, zuletzt während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz.

      Die unter der Führung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch stehende Partei der Bolschewiki bildete sich 1903 durch die Spaltung der 1898 gegründeten russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich am Marxismus orientierte. Der Begriff »Bolschewiki« bedeutet im Deutschen ›Gruppe mit der Mehrheit‹ bzw. ›Mehrheitler‹ und ging auf ein knappes Abstimmungsergebnis beim Parteitag 1903 in Brüssel und London zurück. LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Anhängerschaft hatte ansonsten keineswegs eine Majorität der russischen Sozialdemokraten hinter sich. 1918 entschieden sich die Bolschewiki für eine Umbenennung: Von nun an hießen sie Kommunistische Partei Russlands, ab 1925 Kommunistische

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