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fährt der Zug auf jeden Fall … es fragt sich nur, ob ihr in Richtung Venedig oder Rom wollt … in Verona werden die Waggons nach Venedig nämlich abgehängt!«

      »Ach, so ist das!« sagte Julia erleichtert. »Dann weiß ich Bescheid!«

      Es war ein Glück, daß Jan seine Zeit nicht mit unnützen Fragereien vertan, sondern inzwischen schon zwei Fensterplätze belegt hatte, and zwar in einem der Waggons, die nach Venedig fuhren. Der Zug wurde nähmlich bis auf den letzten Platz besetzt, ja, einige Fahrgäste standen sogar in den Gängen.

      Eine auffallend hübsche junge Frau bemühte sich, ihre beiden Koffer ins Netz zu bekommen. Jan und Julia sprangen hilfsbereit auf und versorgten die Gepäckstücke oberhalb ihres Sitzes, Jan bot ihr sogar mit einer schwungvollen Verbeugung seinen Fensterplatz an.

      Die junge Frau zeigte lächelnd wunderschöne Zähne und ließ auf die Zwillinge einen Schwall von Worten los, die in einer Sprache gesprochen wurden, von der die beiden keinen Ton verstanden. »Mille grazie …«, das kehrte in diesem Wortschwall immer wieder, »mille grazie« — aber was sollte das heißen? Jan und Julia überlegten krampfhaft und wußten nicht was sie antworten sollten; es konnte eigentlich nur Italienisch sein, was der schwarzäugigen Schönheit so mühelos über die Lippen floß. Jan entdeckte eine weiße Karte, die an ihrem Koffer befestigt war, darauf stand: ›Annunciata Perruggia Venezia‹.

      Daß Venezia nichts anderes als Venedig heißt, das wußte Jan, und er kombinierte, daß die junge Frau Italienerin war, geheimnisvoll flüsterte er diese Erkenntnis Julia ins Ohr.

      »Na, wenn schon«, sagte seine Schwester ungerührt, »deshalb hättest du ihr doch nicht deinen Fensterplatz anzubieten brauchen!«

      »Geht dich das was an?«

      »Zum Glück nicht — sonst würde ich mich schön ärgern!«

      »Der Zug … Innsbruck … Brenner … nach Venedig und Rom steht zur Abfahrt bereit auf dem Bahnsteig sechs«, verkündete eine melodische Frauenstimme durch den Lautsprecher, und den Zwillingen zog ein merkwürdiges Gefühl den Magen zusammen, als ihnen richtig klar wurde, daß sie selber ja in diesem Zug saßen.

      »Zwick mich mal ins Bein, damit ich merke, daß ich nicht nur träume«, flüsterte Julia ihrem Bruder zu, aber der schnaufte nur verächtlich.

      Der Fahrdienstleiter zwirbelte mit der linken Hand seinen Schnurrbart, mit der anderen hob er seinen Signalstab, und der Zug setzte sich in Bewegung.

      »Wir wünschen Ihnen eine gute Reise!« rief die Frauenstimme aus dem Lautsprecher, und Jan und Julia war es zumute, als ob dieser Wunsch nur ihnen beiden gegolten hätte.

      Erste Hindernisse

      Vor dem Eingang der Paß- und Zollstelle der Grenzstation Kufstein stand ein Riese von einem Grenzpolizisten.

      »Bitte, Pässe und Ausweise vorzeigen!« forderte er, als Jan und Julia das Bahnhofsgelände verlassen wollten.

      Jan fuhr mit der Hand in die Außentasche seines Rucksacks, und schon hielt er seinen nagelneuen Ausweis dem Beamten vor die Augen.

      »Danke, bitte weitergehen!«

      Jan drehte sich nach Julia um. »Na, komm schon!«

      Julia kniete auf dem Boden, den Inhalt ihres Rucksacks hatte sie schon auf der Erde ausgebreitet.

      »Was suchst du denn?« fragte ihr Bruder ungeduldig.

      »Meinen Personalausweis«, erwiderte Julia mit größter Selbstverständlichkeit.

      »Ja, Menschenskind … hast du etwa deinen Ausweis verloren?«

      »I wo!«

      »Wo ist er dann?«

      »In meiner Schublade zu Hause!«

      Jan beugte sich zu seiner Schwester herunter. »Wie bitte … Schublade zu Hause? Ich höre wohl nicht richtig! Du hast deinen Ausweis zu Hause vergessen?«

      »Du sitzt wohl wirklich auf den Ohren!«

      »Aber ich habe dir doch … mindestens hundertmal habe ich dir gesagt … ach, mit euch Mädchen hat man eben nur Ärger! Hätte ich dich bloß zu Hause gelassen! Was machen wir denn bloß?«

      »Das weiß ich doch nicht! Du bist ja hier der Boß!«

      »Umkehren tu ich auf keinen Fall!«

      »Meinst du, ich?«

      »Aber ohne Ausweis kommst du nicht über die Grenze!«

      »Mal sehen!« sagte Julia seelenruhig. Stück für Stück packte sie alles wieder in ihren Rucksack zurück, trat mit strahlendem Lächeln auf den riesengroßen Grenzpolizisten zu, und pflanzte sich vor seiner Nase auf. »Ich habe meinen Ausweis vergessen, Herr General«, sagte sie, »was machen wir nun?«

      Der Beamte schob seine Dienstmütze aus der Stirn und grinste. »Was wir machen, mein liebes Fräulein, das weiß ich nicht … aber was ich mache, das weiß ich ganz genau!«

      »Sie können ruhig du zu mir sagen, Herr General … ich bin erst so alt wie mein Bruder und heiße Julia Spindler!«

      »Und ich bin kein General, verstanden?«

      »Was soll ich denn sonst zu Ihnen sagen?«

      »Florian!« sagte er schnell, aber dann verbesserte er sich: »Inspektor, verstehst du, ich bin ein Inspektor der Grenzpolizei!«

      »Aha! Und was wollen Sie jetzt mit mir machen, Herr Inspektor? Wollen Sie mich zurückschicken oder einsperren lassen?«

      Der Inspektor legte die Stirne in Falten. »Mal sehen«, knurrte er, »vielleicht beides!«

      Jetzt bekam Julia doch einen kleinen Schreck, und zu allem Überfluß stieß Jan sie in die Seite und sagte: »Da hast du es! Jetzt geht’s dir mal an den Kragen … geschieht dir ganz recht!«

      »Hast du überhaupt keine Papiere dabei?« fragte der Inspektor.

      »Doch, meinen Jugendherbergsausweis!« rief Julia erleichtert und kramte ihn hervor.

      Der Grenzbeamte nahm den Ausweis und prüfte ihn mit strenger Miene. »Bist du wirklich das Mädchen auf diesem Bild?« fragte er Julia.

      »Ganz bestimmt!«

      »Das Mädchen auf dem Bild hat aber gar keine Sommersprossen!«

      »Das ist eine Fotografie vom vorigen Winter«, erklärte Julia, »im Winter habe ich nie Sommersprossen!«

      »Merkwürdig, sehr merkwürdig!« sagte der Inspektor.

      Mit dem treuherzigsten Gesicht von der Welt und mit einem himmelblauen Augenaufschlag flehte Julia: »Ach, bitte, Herr Inspektor, bitte, seien Sie doch nicht so streng zu mir … schicken Sie mich nicht wieder zurück!« Sie hob ihm die gefalteten Hände entgegen. »Wissen Sie, ich kann ja gar nichts dafür, daß ich meinen Ausweis vergessen habe, da ist nur mein Bruder dran schuld … der hat immer gesagt: ›Vergiß nur ja deinen Ausweis nicht!‹ Und bei jeder Gelegenheit hat er gefragt: ›Hast du deinen Ausweis auch eingepackt?‹ Bis ich schließlich so durcheinander war, daß ich ihn zu Hause hab’ liegen lassen!«

      »Wer ist schuld?« Jan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Ich soll schuld sein, daß du deinen Ausweis vergessen hast?«

      »Klar, du hast mich doch andauernd danach gefragt! Wenn dir mein Ausweis so sehr am Herzen gelegen hat, dann hättest du ihn auch selber einstecken können, statt dauernd so blöd zu fragen!«

      Entrüstet wandte Jan sich an den Inspektor. »Was sagen Sie zu so einer Schwester?«

      Der Inspektor lachte vergnügt. »Ich finde deine Schwester großartig! Sei dankbar, daß du schon so früh lernst, daß immer die Männer an allem schuld sind!« Er beugte sich tief herunter — er war ja um viele Köpfe größer als Julia — und sagte zu ihr: »Mach dir um den Personalausweis keine Sorgen!

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