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ist vor etwa zehn Jahren gestorben.“

      „Oh … das tut mir aber leid.“

      Er nickte. „Mir auch.“

      „War Ihr Bruder nicht ein Kriegsheld?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln. „Alex Emerson? Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an diesen Namen.“

      Er runzelte die Stirn. „Ja, aber es würde mich wundern, wenn Sie ihn kennen würden. Alex war zehn Jahre älter als ich.“

      Auf einmal fiel ihr ein, warum sie sich an den Namen seines Bruders erinnerte, aber darüber wollte sie lieber nicht reden. Leider sah sie keine Möglichkeit, dieses Gespräch elegant in eine andere Richtung zu lenken.

      „Woher kennen Sie ihn?“, fragte Mr Emerson nach.

      „Die Wahrheit?“ Sie verzog das Gesicht.

      „Das ist doch immer der beste Weg, meinen Sie nicht?“

      „Nun …“ Innerlich wand sie sich. „Meine Eltern waren … also, sie waren Hippies. Wir lebten in einer Kommune, und manchmal nahmen wir an Demonstrationen gegen den Krieg teil. Bei dieser Gelegenheit, ich war noch klein, besuchten wir einmal meine Großeltern hier in Warner. Wir demonstrierten am Vietnam-Denkmal im Stadtpark … und ich erinnere mich, diesen Namen dort gelesen zu haben. Es war der letzte auf dem Gedenkstein. Und ich kann es nicht erklären, aber ich war deswegen sehr traurig. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mir gewünscht habe, er hätte sich nie zur Armee gemeldet.“

      „Alex hat sich nicht freiwillig gemeldet“, erwiderte Mr Emerson traurig. „Erinnern Sie sich noch an die Vietnam-Lotterie? Dass die Geburtsdaten derer, die eingezogen wurden, eher zufällig gezogen wurden?“

      „Sicher.“ Sie nickte.

      „Nun, Alex’ Geburtsdatum war das zweite Datum, das gezogen wurde, also musste er unmittelbar nach seinem Schulabschluss einrücken.“ Mit abwesendem Blick seufzte Mr Emerson. „Mit kurzem Haarschnitt, auf Hochglanz polierten Kampfstiefeln und einem tapferen Lächeln im Gesicht fuhr er nach Übersee … und kam in einer Holzkiste zurück.“

      „Oh … wie traurig.“

      „Ja, das finde ich auch.“ Er schüttelte den Kopf.

      „Es tut mir wirklich sehr leid. Sie haben Ihren Bruder und Ihren besten Freund verloren.“ Wider besseren Wissens legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Das muss sehr schwer gewesen sein.“

      Er nickte nur.

      Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Unbehaglich nahm sie ihre Hand wieder herunter und griff nach ihrer Tasche. „Nach der Highschool habe ich diese Stadt irgendwie aus den Augen verloren“, erklärte sie nervös. „Ich war ein Jahr in Berkeley, aber irgendwie bekam ich keinen festen Boden unter die Füße. Dann überredeten mich meine Eltern, an eine Kunsthochschule zu wechseln.“ Sie winkte ab. „Aber Sie sind sicher sehr beschäftigt, Mr Emerson. Ich möchte Sie nicht mit Einzelheiten meines Lebens langweilen. Ich bin so froh, dass Sie bereit sind, Collin eine Empfehlung zu schreiben.“ Aus ihrer Tasche zog sie eine ziemlich zerknitterte Visitenkarte.

      „Das mit dem Brief muss nicht heute oder morgen sein, aber es wäre schön, wenn wir ihn vor dem Beginn der Ferien hätten. Damit Sie es nicht vergessen. Sicherlich haben Sie Urlaubspläne, um Ihre Pensionierung zu feiern und so.“ Sie reichte ihm die Karte mit den Eselsohren. „Das ist die Adresse meines Ateliers und der Galerie. Vielleicht sind Sie auf der Main Street bereits daran vorbeigekommen.“ Sie deutete auf die Karte. „Sie trägt meinen Namen, Willow West. Auf jeden Fall können Sie mich dort jederzeit erreichen. Oder Sie schicken die Empfehlung einfach an die E-Mail-Adresse, die unten steht. Ich kann sie dann ausdrucken.“

      „Das müsste ich auf jeden Fall vor Ferienbeginn machen, da ich selbst kein E-Mail habe.“

      Sie schaute ihn verblüfft an. „Im Ernst? Kein E-Mail?“

      Er nickte. „Ich bin ein wenig altmodisch. Computer sind für mich ein notwendiges Übel. Ich benutze sie, wenn ich muss, hier in der Schule zum Beispiel, aber in meinem Haus gibt es solche elektronischen Geräte nicht.“

      „Ehrlich?“

      „Ich besitze nicht einmal ein Handy.“

      Sie war nicht sicher, ob sie beeindruckt war, oder ob sie das einfach nur verrückt fand. „Und wie kommunizieren Sie?“

      „Ich habe einen Festnetzanschluss. Und Briefe schreibe ich mit einem Stift und längere Ausführungen auf derselben Olivetti-Schreibmaschine, die mich bereits durch das College begleitet hat.“

      Sie grinste. „Das ist wirklich cool … und sehr ungewöhnlich.“

      „Ja, das trifft immer wieder auf Unverständnis, aber mir gefällt es nun mal so.“ Er zuckte die Achseln. „Und ich glaube, in meinem Leben gibt es deswegen sehr viel weniger Stress.“

      „Das kann ich nachvollziehen.“ Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter. „Und wenn ich das ebenfalls so handhaben könnte, würde ich es vermutlich tun. Aber in meinem Geschäft, nun, da ist es einfach wichtig, im Netz präsent zu sein.“

      Er las ihre Visitenkarte. „Sie sind Künstlerin?“

      „Ich mache textile Kunst und male ein wenig, und manchmal versuche ich mich auch mit Töpfern und Bildhauerei – wenn ich in der Stimmung bin, mich schmutzig zu machen.“ Sie grinste.

      „Interessant.“

      „Mögen Sie Kunst?“ Neugierig blickte sie ihn an. Er wirkte auf sie nicht wie ein großer Kunstkenner.

      „Ich glaube, dass es mit der Kunst wie mit der Schönheit ist – sie wird mit dem Blick des Betrachters erkannt. Ich bin ganz bestimmt kein Experte, aber ich weiß genau, was mir gefällt.“

      Erneut griff sie in ihre Tasche und zog einen Werbeflyer für die Ausstellung am Abend heraus. Wie ihre Visitenkarte war auch er etwas zerknittert. „Dann haben Sie vielleicht Interesse an dieser Veranstaltung.“

      Seine Augenbrauen zogen sich in die Höhe, als er den Flyer überflog. „Ein Kunstspaziergang?“

      „Ja. Er beginnt heute Abend um sieben. Es gibt kleine Häppchen, Musik und viel Spaß. Alle hier aufgeführten Galerien werden bis neun Uhr geöffnet haben. Wir haben die Veranstaltung Letzter Freitag genannt. Ich hoffe, dass unser Angebot angenommen wird und wir das jeden Monat anbieten können. In Bezug auf die Kunst muss Warner unbedingt endlich aufwachen.“ Sie lächelte. „Das ist einer der Gründe, warum ich wieder hierhergezogen bin.“

      „Um Warner aufzuwecken?“, fragte er verwundert.

      Sie lachte leise. „So ähnlich.“ Sie knipste ihre Tasche zu und richtete sich auf. „So, ich möchte Ihnen jetzt nicht mehr länger die Zeit stehlen, Mr Emerson.“ Sie trat einen Schritt zurück und hielt kurz inne, sodass er Gelegenheit hatte, sie aufzufordern, ihn doch beim Vornamen zu nennen. Als er das jedoch nicht tat, dankte sie ihm für seine Bereitschaft, Collin eine Empfehlung zu schreiben, und verabschiedete sich fröhlich.

      Während sie durch den jetzt verlassenen Flur lief, dachte sie über Mr Emerson nach. Er war so ganz anders als alle anderen Leute, die sie kannte. Und in ihrem Leben hatte sie schon viele Menschen kennengelernt. Aber wie tickte dieser seltsame Mann? Und warum war er so steif und zugeknöpft … und wirkte so traurig? Doch die drängendste Frage war: Warum übte er diese seltsame und unerwartete Anziehung auf sie aus und wie um alles in der Welt sollte sie damit umgehen?

      3

      Bis zum Abend hatte sich George eingeredet, dass er nur zu dieser Kunstveranstaltung auf der Main Street ging, weil sie ihm einen Vorwand bot, Lorna Atwoods immer noch ausstehende Einladung zum Abendessen ablehnen zu können. Die Behauptung, er hätte andere Pläne, war eine Notlüge gewesen. Aber jetzt hatte er an diesem Abend tatsächlich etwas vor. Die Herausforderung bestand nur darin, das Haus zu verlassen, ohne Lorna dabei erneut über den Weg zu laufen.

      George hatte seinen geliebten schwarzen Tweedblazer, ein hellblaues Hemd und eine burgunderfarbene

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