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Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger
Читать онлайн.Название Tollkirschen und Brombeereis
Год выпуска 0
isbn 9783862567430
Автор произведения Franziska Dalinger
Издательство Bookwire
Während ich die Stufen zu unserer Eingangstür hochsteige und die Hitze der Steinstufen durch meine dünnen Schuhsohlen dringt, überlege ich, wie ich mich herausreden soll.
Wie war das noch mit dem Vorsatz, weniger zu lügen? Daniel hasst Lügen, während sie für mich schon selbstverständlich geworden sind.
Auch das ist so etwas zwischen uns, seine unbedingte Ehrlichkeit und meine kreative Umformung der Realität. Was haben meine Eltern eigentlich für eine Basis? Bei ihnen funktioniert es, jedenfalls sieht es für mich danach aus. Was ist es bei ihnen? Was hält sie beieinander? Als Frau eines Pastors wäre es natürlich ungünstig, wenn meine Mutter nicht fromm genug wäre oder plötzlich zum Buddhismus übertreten würde. Aber da muss doch noch mehr sein, oder?
Mir fallen verschiedene Schlagwörter ein, vor meinen inneren Augen formen sie sich zu Flecken auf einem weißen Blatt Papier:
Humor. Haben sie beide.
Unwiderstehliche gegenseitige Anziehungskraft.
Mama kann kochen und achtet sehr auf Gesundheit.
Damit bin ich noch nicht zufrieden. Wie wäre es schlicht und einfach mit Liebe?
Während ich warte, setze ich mich auf die oberste Stufe, obwohl die Hitze mir gnadenlos auf die Pelle rückt, und dichte, denn gerade ist mir eingefallen, dass ich mal lyrisch begabt war.
Was uns verbindet, kann ich nicht benennen.
Da ist zu viel, es sprengt ein einzeln Wort.
Musik und Sommer, Rosenschokolade ...
Dir ist es nicht genug, stumm gehst du fort.
Ich wünschte nur, ich würd’ dich besser kennen.
Schade ...
Oh, da muss ich noch ein wenig dran arbeiten. Zu reimen ist immer schwierig, aber während ich daran tüftle, muss ich wenigstens nicht darüber nachdenken, dass ich Daniel verloren habe. Endgültig.
Nachdem ich eine Viertelstunde lang abwechselnd gedichtet und geklingelt habe, öffnet Silas plötzlich und beendet damit schlagartig mein inzwischen auf zwanzig Zeilen angewachsenes Gedicht.
»WAS?« Offenbar habe ich ihn von irgendeinem Computerspiel weggelotst.
»Wo sind die denn alle?« Ich schiebe mich an ihm vorbei ins Haus.
»Zum Arzt«, antwortet er genervt.
»Ist was passiert?«, frage ich erschrocken.
»Tabita kriegt eine feste Zahnspange. Hast du das etwa vergessen?«
Hab ich. Weder auf mein Gedächtnis noch auf sonst etwas ist bei mir Verlass.
»Dann sind sie nicht beim Arzt, sondern beim Kieferorthopäden«, korrigiere ich ihn automatisch. Besser fühle ich mich dadurch nicht.
In dieser Nacht weine ich in Tabitas Kissen, und sie streichelt eine Weile meine Schulter, bevor sie sich entnervt abwendet. »Jetzt hör endlich auf. Ich muss schlafen, morgen schreiben wir einen Chemietest.«
»Ich kann nicht«, wimmere ich. »Daniel ist weg.«
»Wie, weg?«
»Er wird umziehen. Noch vor den Ferien. Jetzt.«
»Wie, er zieht weg? Er kann nicht einfach umziehen. Er hat noch ein Schuljahr vor sich. So kurz vor dem Abi zieht doch niemand um!«
»Zu seiner Schwester«, erkläre ich schniefend. »Sie kommt wohl immer noch nicht so gut allein zurecht, wegen ihres Beins.«
Daniel und seine Schwester Sarah stehen sich sehr nah. Ich weiß, dass er sich große Sorgen um sie gemacht hat, nicht nur, als sie nach ihrem Unfall im Koma lag, sondern auch später. Sarah kann nicht Auto fahren, und Treppensteigen ist eine Qual für sie.
»Es ist vernünftig«, murmele ich, »wenn er bei ihr wohnt. Dann kann er für sie einkaufen und sie mit dem Auto zum Arzt fahren, sobald er den Führerschein hat, und Sarah muss nicht in der Wohnung hocken und sich von Knäckebrot und Leitungswasser ernähren.«
»Und nun?«, will sie wissen.
Die Adresse könnte ich rauskriegen, auch wenn Frau Hartmann mich gebeten hat, ihren Sohn in Ruhe zu lassen. Ich könnte ihm einen Brief schreiben, auf den er niemals antworten wird. Ich könnte versuchen, die Telefonnummer von Sarah Hartmann herauszufinden. Ich könnte mich in den Zug setzen und hinfahren.
»Nichts, nun«, sage ich. »Es ist aus.«
Es fühlt sich wie ein kleiner Eisbrocken an, der in meinem Magen sitzt. Eine winzige giftige Kugel, die so bitter ist, dass ich brechen möchte.
Seltsamerweise weiß ich, dass ich nicht daran sterben werde, aber selbst wenn, es wäre mir egal.
So fühlt sich Hoffnungslosigkeit an.
»Lass mich mal kurz raus.« Tabita klettert über mich rüber, wobei sie mir unsanft das Knie in die Seite stößt, und kramt in ihrem Bücherregel. »Rück mal an die Wand. Ich brauche die Lampe.«
Verwundert gehorche ich. Was hat sie vor?
»So, wo fangen wir an ... Ah, hier. Hier hat Eliza entdeckt, dass der angebliche Graf Mortimer nicht der ist, der er zu sein scheint. Er hat ein dunkles Geheimnis. Womöglich hat er etwas mit einem Geheimbund zu tun, der in den finsteren Nächten in London sein Unwesen treibt.«
»Äh, was?«, frage ich.
Statt einer Antwort beginnt Tabita mir vorzulesen. Freiwillig hätte ich so einen Liebesroman nie angerührt, doch jetzt kann ich nicht anders, als zuzuhören. Schon bald fesselt mich Elizas tragische Liebesgeschichte – auch wenn ich sie ein bisschen lächerlich finde.
»Und sie ist nie auf die Idee gekommen, dass der Mann mit der Samtmaske der Mörder ist? Wieso steigt sie bloß in diese Kutsche?«
»Sei still«, befiehlt Tabita und liest weiter. »Eliza lehnte den Kopf gegen das Polster und versuchte, ihre Hände unauffällig aus den Fesseln zu ziehen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Mortimer, schluchzte sie. Mortimer, komm und rette mich.«
Aber Mortimer ist in Wirklichkeit ein Pirat, und sein Schiff sticht gerade in See. Wird er rechtzeitig ins Wasser springen, um zurück in den Hafen zu schwimmen und Eliza zu befreien?
Irgendwann schlafe ich ein, und als ich als Nächstes die Augen aufschlage, ist es schon hell und ich höre Tabita und Silas im Bad streiten. Leider habe ich nicht mitbekommen, ob der geheimnisvolle Mortimer die schöne Eliza gerettet hat oder ob sie in den Fängen des bösen Diebes ihr Leben lassen musste. In meinen Gedanken sitzt sie immer noch in der Kutsche, die über das raue Pflaster des nächtlichen London rattert. Regenwasser spritzt auf, Schritte erklingen, jemand scheint hinter ihr her zu rennen. Sie fährt durch eine dunkle, gefährliche Welt, und der Mann, den sie liebt, lässt sich nicht blicken.
Manchmal träume ich, dass alle davon wissen. Alle.
Das hätten wir jetzt nicht gedacht, würden sie sagen.
Nicht von dir.
Ich weiß nicht, was schlimmer wäre, die Verachtung oder das Mitleid. Aus solchen Albträumen erwache ich schweißgebadet.
Wenn sie es wüssten, könnte ich mir gleich die Kugel geben.
Wenn ich tot wäre, denke ich dann, würde es mich nicht kümmern. Falls jemand davon erfährt, und ich bin tot, wäre es mir egal.
Dort im strahlenden Licht werde ich nichts denken, mir um nichts