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Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger
Читать онлайн.Название Tollkirschen und Brombeereis
Год выпуска 0
isbn 9783862567430
Автор произведения Franziska Dalinger
Издательство Bookwire
Ich besuche Tine immer, wenn ich zu aufgewühlt bin, um zu pauken, mit Rosi Spaß zu haben oder mich mit Sonja über Bücher und Filme zu unterhalten. Manchmal brauche ich jemanden, der gar nichts sagt. Tine singt nämlich ununterbrochen. Wir haben die Zeit, als ihr verrückter Freund uns eingesperrt hat, damit verbracht, uns die Seele aus dem Leib zu singen. Seitdem kann ich Musik kaum noch ertragen, doch bei Tine ist es genau umgekehrt: Sie ist quasi abhängig davon. Mittlerweile kann sie sämtliche ihrer Casting Crowns-, Kutless- und Jeremy Camp-CDs auswendig.
»Miriam!« Gerade als ich mich auf mein Rad schwinge, öffnet meine Mutter die Tür und ruft mir nach.
Sie sagt nur meinen Namen. Mehr braucht es gar nicht, und schon fährt mir die Angst bis in die Zehen – ihre Angst. Ich bin mit meinen Albträumen zurückgekehrt; meine Mutter hat ihre eigenen bösen Träume.
Seit meiner Rettung will sie immerzu wissen, wo ich bin. Selbst wenn ich zu Hause bin, schaut sie jede Viertelstunde ins Zimmer, um zu überprüfen, ob ich noch lebe.
Tatsache ist: Ich hab keine Lust, sie über jeden meiner Schritte zu informieren. Ich bin siebzehn Jahre alt, und wenn ich am helllichten Tag in der Stadt rumfahre, muss ich ihr nicht Bescheid sagen, finde ich.
»Miriam«, sagt sie noch einmal, diesmal etwas leiser, und wenn ich in ihr Gesicht blicken würde, könnte ich ihre Angst sehen, die sich dort eingenistet hat, während ich vermisst wurde.
Aber ich schaue weg. Ich will nicht, dass sie dieses neue Gesicht hat, ich will nicht immerzu gefragt werden, ich will nicht, dass sie mit ihrer Angst an mir klebt.
Ich will mein altes Leben zurück.
Können wir nicht wenigstens zu Hause so tun, als wäre nie etwas geschehen?
Also antworte ich ihr nicht, und daher kann sie mich nicht davon abhalten, in die abgewrackteste, schmutzigste und gefährlichste Ecke der Stadt zu fahren. Ich ignoriere die Jungs, die über den Bürgersteig schlendern und mir nachpfeifen. Ignoriere die räudige Katze, die mir um die Beine streicht. Schließe mein Rad ab und klingle unten an der Sprechanlage.
Es rauscht darin, bevor ich Tines Stimme höre: »Mama?«
»Nein, ich bin’s. Tante Messie.«
Wenn ich könnte, wäre ich ihre Mutter. Denn ich weiß, wie sehr sie sich wünscht, ihre Familie käme sie besuchen. Weil ich jedoch keine Wunder wirken kann, drücke ich die Tür auf, sobald der Summer ertönt, und renne die Stufen hinauf. Es sind vier Stockwerke, und ich poltere keuchend durch die offene Wohnungstür und falle Tine um den Hals.
»Da bist du ja.« Sie weint ein bisschen, wie immer, wenn sie mich sieht, weil ich sie an die dunkle Zeit erinnere. Vielleicht aber auch bloß, weil sie schwanger ist und ihre Hormone verrückt spielen. Vielleicht auch von beidem etwas.
»Messie.« Sie drückt mich so fest, dass mir fast die Luft wegbleibt.
»Wie geht’s?«, frage ich. »Euch beiden?«
Stolz tätschelt Tine ihren prallen Bauch. Es sieht so absurd aus, die hagere Tine mit diesem halben Volleyball von Babybauch. Er scheint einfach an ihrem Körper befestigt zu sein, wie eine Attrappe. Sie ist zwar erst im vierten oder fünften Monat, aber sie stöhnt beim Gehen, als wäre er groß wie ein Kürbis. Ich finde ja, dass sie ein wenig übertreibt, aber das würde ich ihr natürlich nie sagen.
»Alles bestens.« Sie ächzt, während sie in die Küche schlurft. »Setz dich. Du siehst aus, als brauchtest du was zu trinken.«
Draußen ist es schwül, aber hier in der Wohnung ist es sogar noch wärmer als draußen. Tine lüftet selten, weil sie so schnell friert. Auf dem Balkon sitzt Ronny, Bastians älterer Bruder, und raucht. Er winkt mir zu, kommt aber nicht rein. Tine erlaubt keinen Rauch in der Nähe ihrer empfindlichen Schwangerennase.
»Deine Eltern waren nicht da?« Ich bin immer so subtil.
»Nein«, seufzt sie.
»Ich werde meinen Vater bitten, noch mal mit ihnen zu reden. Das ist nicht in Ordnung.«
Tines Eltern sind bei uns in der Kirchengemeinde. Sie sind eifrige Gottesdienstbesucher und sehr streng, was ihre moralischen Vorstellungen betrifft. Natürlich haben sie gelitten, als Tine verschwunden war, aber ich glaube, sie waren nicht ganz zufrieden, als sie wieder aufgetaucht ist. Lebendig und schwanger. Vielleicht könnten sie besser damit umgehen, wenn ihre Tochter vergewaltigt worden wäre, denn dann könnten sie sie bedauern und zu trösten versuchen. Tine hat sich jedoch ganz freiwillig mit Finn eingelassen, der am Anfang so nett schien und sich am Ende als völlig abgedreht herausgestellt hat. Also ist sie – in den Augen mancher Leute – selbst schuld an allem.
Das haben ihre Eltern zwar nie direkt gesagt, aber es hat durchaus seine Gründe, warum Tine nicht nach Hause zurückgekehrt ist, sondern vom Krankenhaus hierher in diese Lottersiedlung, in der vor allem Ausländer wohnen und in der anständige Gottesdienstbesucher sich schlagartig unwohl fühlen.
Zum Glück haben sowohl Bastian als auch sein Bruder einen gewissen Ruf in der Gegend, und daher lassen die Gangs auch Bastis Freundin in Ruhe.
»Wenn die Kleine erst da ist«, Tine blinzelt eine Träne weg, »dann kommen sie bestimmt, um ihre Enkelin zu sehen.«
Ich nehme mir vor, nie im Leben schwanger zu werden, wenn man davon pausenlos heulen muss.
»Habt ihr euch denn jetzt auf einen Namen geeinigt?«, frage ich, um sie auf schöne Gedanken zu bringen. »Basti will sie nicht im Ernst Joy nennen, oder?«
Nur zur Erklärung: Basti ist nicht der Vater von Tines Kind. Er war bloß vorher schon, vor der Geschichte mit Finn, in sie verschossen. Basti gehörte zu Daniels Helfern und war dabei, als wir gerettet wurden. Ich vermute stark, er ist der Hauptgrund, warum ihre Eltern sich hier nicht blicken lassen.
»Was hast du gegen den Namen?« Schnaufend lässt Tine sich in einen Sessel fallen. Weil ich nicht sofort antworte, beginnt sie zu summen. Ob sie es selbst überhaupt merkt? Diesmal ist es eins der Lieder aus unserer Dunkelheit.
Ich wünschte, sie würde damit aufhören.
»Joy«, sage ich, um irgendetwas zu sagen, »das klingt nicht mal wie ein richtiger Name. Hör doch mal: Dschoi. Stell dir vor, man würde es Dscheu schreiben, mit eu. Dann würde garantiert niemand sein Kind so nennen.«
Tine lacht. Das ist gut, und ich bin unwillkürlich stolz darauf, sie zum Lachen gebracht zu haben.
»Sie bekommt viele Namen«, sagt sie. »Den meiner Mutter. Und den von Bastians Mutter. Und noch einen nur für sie allein.«
»Joy Ingrid Petra?«, rate ich.
Da lacht sie noch lauter. Ich habe keine Ahnung, wie der Name von Bastians Mutter lauten könnte, und obwohl ich eigentlich wissen sollte, wie Tines Mutter heißt, will es mir partout nicht einfallen.
»Joy Gerlinde Monika?«
»Lass dich überraschen.« Sie lächelt geheimnisvoll, und dann summt sie wieder.
Ich erinnere sie nicht daran, dass sie mir was zu trinken angeboten hat, sondern lehne mich einfach zurück und höre mir das Lied an. Falls ich gehofft habe, dass ich mich dadurch besser fühle, habe ich mich getäuscht.
»Was ist los, Miriam? Erzähl schon.«
Rosi war in der Umkleide dabei. Eine Freundin, die alles mit einem teilt, müsste doch reichen? Aber als ich es Tine erzähle, ist es noch ein Stück anders. Wir sind wie siamesische Zwillinge. Von ihr getrennt zu sein, fühlt sich an wie eine Amputation. Oder vielleicht ist der Schmerz, den ich fühle, auch die Trennung von Daniel. Ich weiß es nicht. Die Symptome sind alles, was ich habe, aber was mir fehlt, könnte ich nicht sagen. Unsere Matratze im Dunkeln und unsere Lieder und die Spiele und die Witze, mit deren Hilfe wir die Finsternis weggelacht haben.
Auf