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und das hat, wen wundert es, seine Leistungskurve am Gymnasium wieder gedrückt.

       Heilsarmee

      Seit der Begegnung mit einem Heilsarmeesoldaten in Ernst-Ferdinand Kleins Lichtenrader Pfarrhaus hat sich Eberhard Arnold von der Arbeit der Heilsarmee angezogen gefühlt. Die Verbindung von Leib- und Seelsorge („Suppe, Seife, Seeelenheil“), die Tatsache, dass die Salutisten unerschrocken auch in die elendesten Wohnquartiere und die verrufensten Spelunken gingen, das entsprach gleichermaßen seinem sozialen Gewissen und seiner Begeisterung für Jesus. Abgesehen vom Schülerbibelkreis besuchte er immer wieder das Versammlungslokal der Heilsarmee, ein Kellerzimmer in einem baufälligen Haus in der Stockgasse – nicht gerade die feinste Adresse in Breslau. Die sogenannten Soldaten (und Soldatinnen) kamen zumeist selbst aus einfachen Verhältnissen, waren in der Regel schlecht ernährt und blass und beherrschten ein erstaunliches Repertoire marschmäßig angelegter Heilslieder. Eberhard Arnold fühlte sich in dieser Gesellschaft wohl. Mit achtzehn begann er, gelegentlich in der Stockgasse zu predigen. Mit 20 konnte man ihn mit dem „Kriegsruf“ (einer Heilsarmee-Zeitschrift) in der Hand erleben, wie er wildfremde Leute auf der Straße, in Betrieben und Geschäften ansprach und sie aufforderte, ihr Leben Jesus hinzugeben.

      Einem Breslauer Heilsarmeekapitän verdankte er eine wichtige Lektion. Er traf ihn im Gespräch mit einem verkommenen Menschen an und konnte sich hinterher nicht die Bemerkung verkneifen: „Welch furchtbares Gesicht!“ Der Kapitän entgegnete ihm scharf: „Wie würden Sie aussehen, wenn Sie das alles durchgemacht hätten, was dieser Unglückliche hat erleiden müssen!“ Einmal mehr wurde ihm durch diese Episode klar, dass er unverdient und ohne eigenes Zutun zu einer bevorzugten Schicht gehörte, und dass andererseits Elend nicht unbedingt selbstverschuldet ist. Folglich wurde er mit seinem Urteil über Menschen vorsichtiger. Er versuchte, armen oder belasteten Menschen vorbehaltlos und mit noch mehr Liebe zu begegnen. Manchmal mit Erfolg: Einmal half er eine Prügelei schlichten und brachte einen der betrunkenen Kampfhähne nach Hause. Erschüttert von dem Elend, das er dort sah, redete er dem Mann ins Gewissen und fragte, ob er nicht glaube, dass Jesus ihm helfen könne. Der hielt dagegen: erst einmal solle der junge Herr ihm helfen. Also stand der Schüler täglich eine Stunde früher auf als sonst und begleitete den Mann an den verlockenden Kneipen vorbei zur Arbeitsstelle und abends wieder zurück. Solange, bis der Mann sich in einer Heilsarmeeversammlung zur Nachfolge Jesu bekannte und wieder im Leben Tritt fasste.

      In den letzten beiden Schuljahren fühlte sich Eberhard Arnold zeitweise so sehr eins mit den Zielen und der Arbeit der Heilsarmee, dass er am liebsten seine Schulausbildung abgebrochen und selbst die Uniform angezogen hätte. Seine Eltern verstanden das zu verhindern. Ihre Haltung zu seinem Engagement war zwiespältig: sie hinderten ihn nicht, die Versammlungen zu besuchen, und nahmen seine Verpflichtungen im Bibelkreis hin. Sie schritten ein, als sie auf Plakaten an Litfaßsäulen lasen, dass ein „Missionar Eberhard Arnold“ auf Einladung der Heilsarmee zu einer großen Versammlung sprechen werde. Es war weder üblich noch erlaubt, dass Schüler öffentlich auftreten und sprechen konnten. Carl Franklin Arnold war anfangs so entsetzt, dass er glaubte, seine Professur wegen des missratenen Sohnes niederlegen zu müssen.

       Erstmals: die Täufer

      Das war endlich mal ein Feld, auf dem er mit der Unterstützung seines Vaters rechnen konnte. Carl Franklin Arnold war etwas beunruhigt, dass sein Sohn sich ausgerechnet für eine in seinen Augen erfolglose Seitenlinie der Reformation interessierte. Trotzdem, er machte ihm seine wissenschaftliche Bibliothek zugänglich und stellte sich langen Gesprächen über die Täuferbewegung und Vergleichen mit dem Weg, den die Kirche Martin Luthers genommen hatte.

      Durch seinen Vater ist Eberhard Arnold auf einen anerkannten Gelehrten aufmerksam gemacht worden, der über die Geschichte der mährischen Täuferbewegung Jakob Hutters geforscht hatte: den Grazer Geschichtsprofessor Johann Loserth. Eberhard Arnold hat Loserths zweiteiliges Buch über den „Anabaptismus in Tirol“ in der Bibliothek des Vaters vorgefunden. Er erwähnt eine Diskussion mit dem Vater über Loserths Anerkennung der mährischen Wiedertäufer als „gute treue Menschen reiner Sitte und strenger Jesusliebe“. Das Wissen und die Eindrücke, die Eberhard Arnold bei diesen Gesprächen und der entsprechenden Lektüre gewonnen hat, haben mit längeren Unterbrechungen, im Abstand von jeweils sechs bis sieben Jahren, entscheidend weitergewirkt (drei Jahrzehnte später hat er selbst wissenschaftlichen Austausch mit Prof. Loserth gepflegt). Im Augenblick sorgte die Entdeckung der täuferischen Geschichte lediglich dafür, dass dem jungen Mann Zweifel an der preußischen Staatskirche kamen, die seinem Vater so unendlich viel bedeutete. Damit wird ein paradoxer Zug an der Beziehung zwischen Eberhard und Carl Franklin Arnold erkennbar: Sie fanden und verstanden sich im gemeinsamen glühenden Interesse an der Geschichte der Christenheit, zugleich setzten sie sich in der Bewertung dieser Geschichte immer weiter voneinander ab.

       Auszeit

      Missionseifer, seelsorgliche Arbeit an den Kameraden und Altersgenossen, Redetalent, Heilsarmee hier und Bibelkreis da – das ging auf die Dauer spürbar auf Kosten der Schule. Clara Arnold schreibt, ihr Bruder habe der Schule Gleichgültigkeit und sogar passiven Widerstand entgegengebracht. Rein rechnerisch ergibt sich jedenfalls aus den bekannten Lebensdaten, dass Eberhard Arnold in den Jahren nach dem 16. Geburtstag ziemlich gebummelt hat. Die Eltern überzeugten ihn, dass er sich endlich auf das Abitur konzentrieren müsse (gleichwohl stand er auch später stets zu seinem missionarischen Engagement in den Jahren von 1900 bis 1904: „Ich kann nie bereuen, für Jesus an Seelen gearbeitet zu haben, und muss es festhalten, dass es Sein Auftrag war und Sein Geist, der mich dazu trieb …“). Die vertraute Umgebung, die vielen Verpflichtungen und Kontakte in Breslau konnten da nur hinderlich sein. Eberhard Arnold wurde im niederschlesischen Städtchen Jauer in Pension gegeben und erwarb dort am königlichen Gymnasium in den ersten Wochen des Jahres 1905 das Reifezeugnis. Er war nun 21 Jahre alt.

      1 Thomas a Kempis, „Von der Nachfolge Christi“, Erstes Buch.

      2 Möglicherweise steht „v. Gürten“ für Ludwig von Gerdtell, und Eberhard Arnold hat den Namen bewusst verfremdet. Dann müsste die Episode ins Jahr 1902 datiert werden, und von Gerdtell hätte Eberhard Arnold den ersten Impuls zur Beschäftigung mit den Wiedertäufern gegeben. Die Beschreibung „von Gürtens“ trifft jedenfalls in wesentlichen Zügen auf L. v. G. zu: strikter Anabaptismus, Geringschätzung der Reformatoren, Berufung auf das Urchristentum. – Viele Jahre später schrieb Arnold in einem Brief: „Mir ist deutlich geworden, dass unsere erste Breslauer Zeit viel Gewaltsames und Vergewaltigendes, Unfreies und menschlich ichbetontes Gerede in ihren Ausdrücken enthielt. Gerdtell hat das nicht erkannt.“

      3 Anders als Luther, Calvin und Zwingli haben einige Reformatoren die Kindertaufe als unbiblische und irreführende Praxis verworfen und stattdessen die „Glaubenstaufe“ Erwachsener gefordert. Da bis dahin praktisch jedes Kind getauft worden war, mussten Menschen, die die Glaubenstaufe an sich vollziehen

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