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Gesicht des Dorfobersten in ihrem Sichtfeld. „Hoffentlich wieder gut und ausgeschlafen“, rief er mit seiner unangenehm lauten Stimme. „Du hast schließlich noch eine Mission zu erfüllen!“

      Eine Mission? Der Sinn dieses Satzes sickerte nur langsam in Raleas Bewusstsein. Doch dann war sie mit einem Mal hellwach. Wie von selbst griffen ihre Finger nach dem Elfenstein. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie erleichtert oder bestürzt darüber sein sollte, dass er nach wie vor an ihrem Hals hing. Sie streifte sich die Silberkette über den Kopf und betrachtete nachdenklich den blauen Stein in ihrer Hand. Er war glatt und etwa so dick wie ihr Zeigefinger. Man konnte genau erkennen, dass es früher mal eine flache runde Scheibe gewesen sein musste – etwa so groß wie ihre Handfläche. Doch dann war er geteilt worden, als hätte man durch seine Mitte eine Schlangenlinie mit zwei Kurven gemalt, sodass zwei identische Hälften entstanden, von der sie nun eine in der Hand hielt.

      Die Gefühle in Ralea schienen einen Kampf miteinander auszufechten. Einerseits wollte sie den Stein am liebsten so weit wie möglich von sich wegschleudern, andererseits fühlte sie sich immer noch so seltsam verbunden mit ihm, dass sie ihn am liebsten nie mehr hergeben würde. Doch sie ahnte, was das bedeuten würde: Sie würde durch Romanien reisen und den Zauber erneuern müssen, der auf Luramos lag. Dieser Gedanke war so absurd, so undenkbar und so Angst einflößend, dass sie sich lieber dafür entschied, nichts mehr mit diesem merkwürdigen Stein zu tun haben zu wollen. Sie hielt ihn dem Dorfobersten entgegen und sagte: „Ich weiß zwar nicht, was das alles hier soll, aber falls es meine Schuld ist und ich die Versammlung gestört habe, so tut es mir leid. Und den hier möchten Sie wahrscheinlich wieder haben.“

      Doch der Dorfoberste machte keine Anstalten zuzugreifen. Er schaute sie nur einen Moment an und lachte dann laut auf: „Ihn wieder haben? Himmel, Mädchen, hast du wirklich keine Ahnung oder stellst du dich nur dümmer an, als du bist?“

      Ralea senkte den Arm, mit dem sie immer noch den Stein hochgehalten hatte. Doch sie war viel zu aufgewühlt, um beschämt oder gar zornig über die Bemerkung des Dorfobersten zu sein. Tatsächlich stellte sie sich dümmer, als sie war, wurde ihr bewusst. Weil das alles einfach nicht wahr sein konnte. Nicht wahr sein durfte.

      „Was soll das heißen?“, krächzte sie. Sie musterte die Gesichter um sich herum: Ihr Vater konnte sich immer noch nicht sein fröhliches Grinsen verkneifen, was sie ziemlich irritierte. Lora musterte sie nachdenklich, ihre Mutter machte ein bekümmertes Gesicht, der Dorfoberste und der stille Eigentümer des Hauses nahmen nun wieder auf den Stühlen in der Mitte des Raumes Platz und Morganas Miene gab wie immer nicht preis, was in ihr vorging.

      Schließlich war es ihr Vater, der antwortete. Er umschloss Raleas freie Hand mit seinen großen, schwieligen Händen und sah ihr tief in die Augen, während er mit bewegter Stimme sagte: „Schatz, es ist unglaublich. Deine Mutter und ich konnten es wirklich nicht glauben, bis wir dich hier liegen sahen ... mit dem Stein. Er hat seine Wahl getroffen, Ralea. Du bist die Auserwählte.“ Er hielt kurz inne und schien tatsächlich, mit den Tränen zu kämpfen. „Ich bin ja so stolz auf dich.“

      Fassungslos starrte Ralea ihren Vater an. Jetzt war es zur Gewissheit geworden. Die Gedanken rasten in ihrem Kopf, ohne dass sie auch nur einen zu fassen bekam. Ehe sie eine der vielen Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, stellen oder besser herausschreien konnte, sagte ihre Mutter: „Natürlich verlangt keiner von dir, dass du diese Mission wirklich antrittst.“ Sie betonte das Wort Mission überdeutlich, um ihr Missfallen klarzumachen, und sah ihren Ehemann vielsagend an. „Nicht wahr, Merdrid?“

      Das Lächeln auf dem Gesicht von Raleas Vater verschwand. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ralea mit Freuden ...“

      „Merdrid!“, rief Raleas Mutter bestürzt. Der Klang ihrer Stimme ließ alle im Raum zusammenzucken, war sie doch ebenso wie ihre Tochter für ihr ruhiges und besonnenes Wesen bekannt.

      „Ich meine doch ­bloß ... Also natürlich ist es letztendlich immer noch Raleas Entscheidung ...“, erwiderte Merdrid mit schuldbewusster Miene.

      „Ihre eigene Entscheidung? Da gibt es nichts mehr zu entscheiden! Der Elfenstein hat entschieden – basta!“, bellte der Dorfoberste von seinem Sitzplatz aus.

      Das brachte Raleas Mutter vollends zur Raserei. Sie keifte etwas von wegen unverantwortlich, während Merdrid versuchte sie zu beschwichtigen und es dauerte nicht lange, da redeten alle durcheinander und das Chaos war perfekt. Ralea wäre am liebsten aus dem Raum gestürzt und weggerannt – weit, weit weg – bis dieser ganze Wahnsinn hinter ihr liegen würde und bei ihrer Rückkehr sich alle für diesen schlechten Scherz entschuldigen würden.

      Lora suchte Raleas Blick und versuchte sich an einem tröstenden Lächeln, das ihr jedoch ziemlich misslang. Als Ralea schon meinte, die heftig diskutierenden und streitlustigen Stimmen der Erwachsenen nicht mehr ertragen zu können, rief jemand mit schneidender Stimme: „Ruhe!“

      Sofort war es mucksmäuschenstill. Erst nach einigen Herzschlägen erkannte Ralea, wer gerufen hatte: Morgana warf tadelnde Blicke in die Runde und sagte bestimmt: „Ihr solltet euch alle schämen für euer Benehmen. Vor allem du!“ Dabei schaute sie den Dorfobersten so zornig an, dass dieser ihrem Blick auswich und auf seine Füße starrte.

      „Danke, Morgana. Es wurde wirklich Zeit, dass hier mal jemand ein Machtwort spricht. Wenn du jetzt bitte den Herren der Schöpfung hier klar machen könntest, was für ein Wahnsinn es ist, einem minderjährigen Mädchen solch eine Aufgabe aufbürden zu wollen ...“ Raleas Mutter sah die Geschichtenerzählerin hoffnungsvoll an.

      Diese jedoch sah Ralea tief in die Augen. Sie schien ihr geradewegs bis in die Seele blicken zu können, doch Ralea hielt ihrem Blick stand. Schließlich schaute Morgana weg und Ralea meinte, ein kurzes Aufblitzen von Anerkennung in ihrem Gesicht zu sehen. Obwohl sie sich nachher nicht mehr sicher war, ob es wirklich da gewesen war oder ob sie es sich nur eingebildet hatte, fühlte sie sich, als hätte sie eine Prüfung bestanden.

      „Nein“, antwortete Morgana endlich und die Hoffnung auf dem Gesicht von Raleas Mutter war wie weggewischt. „Ich werde zuerst mit Ralea sprechen. Und zwar allein.“

      Raleas Vater nickte und erhob sich. Ihre Mutter dagegen sah aus, als hätte sie soeben einen Schlag ins Gesicht bekommen. Doch auch sie erhob sich langsam und verließ nach einem letzten besorgten Blick auf ihre Tochter mit den drei Männern den Raum. Lora drückte sanft Raleas Hand, dann aber ließ sie los und folgte den anderen.

      Als sich die Tür hinter geschlossen hatte, blieb Ralea unverändert sitzen, starrte vor sich hin und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Morgana ging mit der Langsamkeit alter Menschen auf den Tisch zu – ihre Schritte wurden begleitet von einem leisen Tock, Tock, wenn der hölzerne Gehstock auf den Boden traf. Sie zog sich einen Stuhl neben Raleas Strohmatte und ließ sich darauf nieder. Sorgfältig legte sie den Gehstock neben sich auf den Boden und faltete die knochigen Hände im Schoß. Ralea wusste nachher nicht, wie lange sie einfach nur stumm da gesessen hatten, aber schließlich war sie es, die das Schweigen brach: „Warum ich?“

      „Das weiß ich nicht“, antwortete Morgana ehrlich.

      „Ich will das nicht.“ Raleas Stimme war kaum mehr als ein kraftloses Flüstern. „Ist es wahr, was der Dorfoberste sagt? Dass die Entscheidung des Elfensteins unwiderruflich ist?“

      Morgana nickte. „Leider ja. Er würde niemand anderem seine Macht zur Verfügung stellen.“

      Ralea vergrub das Gesicht in den Händen. Etwas Kaltes berührte ihre Wange. Überrascht schaute sie in ihre rechte Hand. Sie hatte ganz vergessen, dass sie immer noch den Stein festhielt. Auf einmal überkam sie eine ungeheure Wut auf diesen Stein, auf den Dorfobersten und sogar auf Morgana. „Das ist so ungerecht! Ich hab mich doch noch nicht einmal als Freiwillige gemeldet!“ Morgana erwiderte ihren zornigen Blick völlig gelassen, was sie nur noch wütender machte. „Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!“, sagte Ralea mit einer Stimme, die selbstbewusster klang, als sie sich fühlte.

      „Nein“, antwortete Morgana ruhig. „Das können wir nicht.“

      „Nicht?“

      „Die

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