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gesehen. Er stand reichlich blöd da nach seiner dramatischen Ankündigung von vorhin, fand Ralea. Auch das schien ihm bewusst zu werden. Gerade wollte er den Mund aufmachen und etwas sagen, da wurde das Licht plötzlich intensiver. Auf einmal ertönten mehrere spitze Aufschreie, dann riefen alle durcheinander.

      Es brauchte einen Moment, bis auch Ralea den Grund für die allgemeine Aufregung erkannt hatte: Das Licht war nicht intensiver geworden, sondern es schwebte aus dem Kästchen heraus! Ralea traute ihren Augen nicht. Sie war so perplex, dass sie sich nicht rühren konnte und wie gebannt auf den faustgroßen Gegenstand starrte, der langsam aus dem Kästchen stieg und über dem Kopf des verblüfften Dorfobersten in der Luft verharrte. Der Lärm brach so schnell ab, wie er aufgebrandet war. Die Menschen verstummten und wagten nicht mehr, sich zu bewegen.

      „Das ist er“, dachte Ralea ehrfurchtsvoll. „Der Elfenstein!“ Wie von unsichtbaren Händen getragen setzte er sich wieder in Bewegung, flog erst ein paar Meter geradeaus auf das staunende Publikum zu und sank dann langsam wieder hinab, bis es auf Augenhöhe mit den Freiwilligen direkt vor dem Podium war. Leider konnte Ralea nur ihre Hinterköpfe sehen, als der Elfenstein langsam begann, die Reihen entlangzuschweben, doch war sie sich sicher, dass ihre Augen eben so geweitet waren wie ihre eigenen und ihre Münder sperrangelweit offen standen. Langsam schwebte der Elfenstein an jedem einzelnen Gesicht entlang. Als er vor Loras Bruder Limon vorbeiflog, drückte die Freundin Raleas Hand vor Aufregung besonders fest, doch noch immer machte der Elfenstein nicht halt. Schließlich näherte er sich dem letzten Freiwilligen, einem jungen Mann namens Bramon, den Ralea schon öfter in ihrem Dorf gesehen hatte und der siegessicher das Kinn reckte.

      Endlich verharrte der blaue Lichtball. Er war nun so nah, dass Ralea sogar eine feine Silberkette ausmachen konnte, die von ihm herabbaumelte. Vorsichtig streckte Bramon seine rechte Hand aus, doch gerade, als er nach dem Stein greifen wollte, setzte sich dieser ruckartig wieder in Bewegung und flog einfach über Bramon und die Mauer aus Strohballen hinter ihm hinweg – mitten in die wartende Menge hinein. Wieder erklangen ein paar erschrockene Schreie, jemand rempelte Ralea an, sodass sie stolperte und den Stein aus den Augen verlor. Als sie sich wieder aufrichtete und hektisch um sich blickte, sahen alle Leute gebannt in eine Richtung links hinter ihr.

      „Da vorne ist er!“, flüsterte Lora. Ralea folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger und meinte, einen bläulichen Schimmer ausmachen zu können, der sich langsam einen Weg durch die Menschen bahnte. Überall, wo er lang flog, sprangen die Menschen schnell zur Seite – und oft ihrem Hintermann auf die Füße –, sodass der Stein sich mühelos eine Schneise bahnen konnte.

      „Oh mein Gott!“, keuchte Lora. „Er kommt auf uns zu!“

      Ralea schluckte trocken. Sie wusste auch nicht, warum ihr vor Angst kalter Schweiß ausbrach und ihr Herz von innen gegen ihren Brustkorb zu hämmern begann. Bisher hatte der Stein doch keinem etwas getan und er hatte ja auch keinen Grund dazu, aber trotzdem verlief die Aktion ganz offensichtlich nicht so wie geplant. Warum hatte er sich keinen von den Freiwilligen ausgesucht? Sie machte sich bereit, genauso zur Seite zu springen, wie die anderen es zuvor getan hatten, falls er tatsächlich an ihr vorbeischweben sollte. Ohne zu blinzeln, verfolgte Ralea mit den Augen das blaue Licht, das immer heller zu strahlen schien.

      Lora hatte recht: Es kam tatsächlich immer näher. Und dann war er plötzlich da. Zwei Leute, die eben noch vor Ralea gestanden hatten, sprangen zur Seite und zwischen ihren Schultern flog er hervor – majestätisch, unheimlich, zielstrebig. Wie in Trance nahm Ralea das blaue Licht wahr, das über sie schwappte wie warmes Wasser, die Leute, die vor dem Stein zurückwichen, Lora, die ihre schweißnasse Hand losließ und irgendetwas rief. Doch Ralea konnte sich nicht bewegen. Konnte nur in dieses Licht starren, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf einmal war da keine Angst mehr, sie wurde verdrängt von einem anderen, einem viel stärkeren Gefühl, das ihr sagte, dass das hier richtig war. So als wäre ihr ganzes Leben, alles, was vorher gewesen war, nur ein Vorspiel gewesen, das sie zu genau diesem Moment führen sollte. Sie wusste auf einmal ganz genau, dass der Stein sie gesucht hatte. Er gehörte zu ihr, genau so, wie sie zu ihm gehörte. Das Verlangen, die Hand nach ihm auszustrecken, die Finger um ihn zu schließen und nie mehr loszulassen, wurde übermächtig. Doch wenn sie das tun würde – nein, das konnte nicht sein!

      Ralea schüttelte stumm den Kopf und machte einen Schritt nach hinten. Wie von weiter Ferne drang Loras Stimme an ihr Ohr: „Ralea!“ Mühsam wandte sie den Blick von dem Stein und wurde sich bewusst, dass die Menschen einen Kreis um sie und den Elfenstein gebildet hatten. Alle schauten sie mit großen Augen an und jemand flüsterte: „Er ist stehen geblieben!“

      Tatsächlich: Der Stein hing immer noch vor Ralea in der Luft. Warum flog er nicht weiter? Als hätte er Raleas Gedanken gehört, setzte er sich plötzlich wieder in Bewegung – aber nicht von Ralea weg, sondern weiter und weiter auf sie zu! Erschrocken machte das Mädchen noch einen Schritt nach hinten, doch der Elfenstein war schneller. Ehe Ralea sich versah, war er genau vor ihrem Gesicht und sie spürte, wie sich die Silberkette, die an ihm befestigt war, um ihren Hals legte. Als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen verlosch das blaue Licht und der Elfenstein fiel auf ihre Brust herab.

      Das war ein Traum! Das musste einfach ein Traum sein! Entsetzt starrte Ralea auf den blauen Stein, der von ihrem Hals hing. Was ging hier vor? Das Flüstern der schockierten Leute drang an ihr Ohr und auch die Rufe von weiter hinten: „Was ist denn da vorne los?!“ Doch Ralea fühlte sich seltsam losgelöst von allem. Vielleicht war das ja wirklich alles nur ein Traum ... Das Letzte, was Ralea sah, war Loras Gesicht. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und die Augen so weit aufgerissen, dass man meinen konnte, sie würden gleich aus den Höhlen treten. Dann umfing Ralea nur noch Schwärze.

      „Das ist doch Wahnsinn!“

      „Tut mir leid, aber die Wahl des Elfensteins ist unumstößlich ...“

      „Sie ist noch ein Kind!“

      Ralea schlug die Augen auf. Sie blickte direkt in Loras erleichtertes Gesicht. „Endlich bist du wach!“, rief die Freundin.

      „Sie ist aufgewacht?“ Das war die Stimme ihrer Mutter. Schritte waren zu hören und dann erschien ihr Gesicht neben dem von Lora. Sie wirkte völlig aufgelöst, ihre sonst so sorgfältig zusammengebundenen blonden Haare fielen ihr unordentlich ins Gesicht und ihre Wangen waren gerötet. „Oh, Schatz, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“, sagte sie und streichelte mit ihren zierlichen Fingern über Raleas Wange.

      Ralea blinzelte und setzte sich mühsam gerade auf. „Bin ich etwa in Ohnmacht gefallen?“, murmelte sie. Sie saß auf einer dünnen Strohmatte, die man anscheinend auf den Boden eines Wohnzimmers gelegt hatte. Der Raum war klein und gemütlich, obwohl er spärlich möbliert war. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großer Schrank, daneben waren ein offener Kamin und in der Mitte ein Holztisch mit Stühlen, an dem auch der Dorfoberste saß und sie nachdenklich musterte.

      Lora kicherte. „Und wie! Richtig elegant bist du zu Boden gesunken. Ein Mann hat dich dann in sein Haus getragen, das an den Markt grenzt.“

      Raleas Mutter wandte sich um und rief: „Merdrid! Sie ist aufgewacht!“ Sofort hörte man die stampfenden Schritte von Raleas Vater aus einem Nachbarzimmer und wenig später erschien er selbst in der Tür. Er strahlte über das ganze Gesicht und eilte auf Ralea zu. Er kniete sich vor seine Tochter und schloss sie so fest in seine Arme, dass sie kaum noch Luft bekam. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich weg und betrachtete sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. „Ich bin so stolz auf dich!“, sagte er leise.

      Verblüfft betrachtete Ralea ihrerseits ihren Vater. Sein dichtes braunes Haar, das sie von ihm geerbt hatte, und seine kräftige Statur, die im krassen Gegensatz zu dem zierlichen Körperbau ihrer Mutter stand. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit! Die Gelegenheiten, an denen ihr Vater das schon mal zu ihr gesagt hatte, konnte sie an einer Hand abzählen, aber was hatte sie denn nun schon getan, worauf man hätte stolz sein können?

      Hinter ihrem Vater betraten zwei weitere Personen den Raum. Ein Mann, von dem Ralea vermutete, dass ihm das Haus gehörte, dicht gefolgt von Morgana. Die alte Frau stützte sich schwer auf ihren Gehstock, doch ihre wachen Augen musterten Ralea

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