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als würde er mal versuchen, die Welt ein bißchen aus den Angeln zu heben. Da ist was drin, glaube ich. Und der soll einmal nicht so dastehen müssen wie der junge Mann, von dem ich Ihnen eben erzählte, und sagen: ‚Damals, als ich die Bude vom alten Grulich zertrampelte, damals hätte es einschlagen müssen, und zwar gewaltig! Dann wäre es anders mit mir gegangen.‘“

      „Herr Grulich! Es war das erste Mal!“

      „Eben! Es ist das erste Mal! Es soll kein zweites geben, bei diesen beiden Buben. Um der Buben willen.“

      „Aber — aber meine Eltern! Mein Vater —“

      „Ihr Vater? Meinen Sie nicht, es ist besser, er erlebt jetzt —“

      „Nein! Nein, Herr Grulich! Er übersteht das nicht! Vater ist —“ Auf einmal sah ich Vater, wie er wirklich ist: Ehrgeizig, krankhaft strebsam und dadurch überfordert von der Arbeit, bei der er mehr zu leisten versucht als alle andern. Er fängt früher an und hört später auf, um etwas darzustellen für die Umwelt. Nicht für sich. Was die Leute sagen, die Kollegen, ist wichtig. Wie das Haus von außen aussieht, ist die Hauptsache. Eine blendende Fassade, auch wenn es verschuldet ist bis unter den Schornstein.

      Deshalb stören wir ihn auch nur, durch unsern Spektakel, unser Lachen, einfach durch unser Dasein. Dadurch ist er immer gereizt. Im Grunde weiß er gar nichts von uns, und manchmal kommt ihm das wohl zum Bewußtsein und belastet ihn. Da wird er noch strenger.

      Sicher ist es falsch, so zu leben. Aber viele tun es, vor allem Kleinstädter. Dort, wo jeder jeden kennt, da ist alles Äußere wichtig. Da muß man etwas gelten. Oder man glaubt es wenigstens.

      Und Mutter?

      „Mutter würde Sie verstehen“, hörte ich mich sagen. Man spricht ja in der Aufregung manches aus, was man noch gar nicht richtig wußte. „Mutter ist anders. Mutter weiß, worauf es ankommt — eigentlich. Vater aber — es würde ihn umwerfen. Er hatte doch schon einen Herzinfarkt, ich weiß nicht, ob Sie das wissen. Er muß geschützt werden vor jeder Aufregung. Lieber Herr Grulich, bitte, sehen Sie es einmal so! Bitte, schonen Sie ihn!“

      Ich schwieg. Er schwieg auch. Nach einer Weile sagte er leise, fragend, wägend: „Und Ihre Brüder? Ist das die Sache wert? Ich meine, wenn ich jetzt Ihren Vater schone, und die beiden gehen weiter diesen Weg — sind wir dann nicht in einem halben, vielleicht in einem Vierteljahr am selben Punkt?“

      „Es muß ja nicht so sein. Man kann sie ja aufhalten — oder den Weg abbiegen. Ihnen ordentlich ins Gewissen reden — sie beeinflussen“ — ich fand keine Worte mehr.

      „Ins Gewissen geredet wurde jenem jungen Mann damals vermutlich auch. Was sind Worte“, sagte Grulich leise. Immerhin, ich witterte eine winzige Chance.

      „Sie sagen ‚vermutlich’. Vielleicht aber auch nicht. Uli und Roland sind nicht schlecht, glauben Sie mir. Sie sind in schlechte Gesellschaft geraten, sie sind…“

      „Das stimmt“, sagte der Alte nachdenklich. „Wo aber fängt es an, und wo hört es auf? Glauben Sie nicht, daß die Eltern der beiden andern, Uwe und Horst heißen sie, ich weiß — das gleiche Argument bringen würden? Unsere armen, harmlosen Kinder sind in schlechte Gesellschaft geraten! Jede Mutter findet, daß ihr süßer, unschuldiger, ja, gänzlich unwissender Sprößling beeinflußt, herabgezogen, verdorben wurde, von den bösen anderen…“

      „Herr Grulich! Ich werde verhindern, daß sie weiter mit diesen beiden zusammen sind! Ich verspreche es Ihnen! Ich werde achtgeben — ich — bitte, Herr Grulich! Bitte geben Sie mir eine Chance, geben Sie den Jungen eine! Der junge Mann, von dem Sie sprachen, hatte vielleicht keine, er hatte vielleicht niemanden, der auf ihn achtete. Vater und Mutter waren beschäftigt, und er war der einzige —“

      „Eine Schwester hatte er nicht, eine ältere“, sagte Herr Grulich langsam.

      „Aber Uli und Roland haben eine. Herr Grulich —“ Ich merkte, daß ich gewonnen hatte. Am liebsten hätte ich geheult vor Erleichterung. Aber ich mußte mich doch nun vernünftig und erwachsen benehmen, sonst glaubte er wahrscheinlich nicht, daß ich es auch sei.

      „Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen so sehr“, hörte ich mich stammeln.

      Er hielt meine Hand. „Fräulein Silke, lassen Sie mich noch eins sagen, als letztes. Sie haben ja nun erreicht, was Sie erreichen wollten. Jener bedauernswerte junge Mann, der nun nie mehr die Chance haben wird, sich normal ins Leben einzureihen, der immer wieder strauchelte und es immer wieder tun wird — der nahm sich zuletzt noch das Recht auf ein Schlußwort. Und da schleuderte er ‚denen‘ seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht. ‚Die hätten mich nicht schonen sollen!‘ wütete er. ‚An denen liegt es, daß ich hier stehe. Die sollten sich überlegen, ob sie jugendliche Verfehlungen zudecken und vertuschen sollen, statt zuzuschlagen. Mir hätte es besser getan, ich hätte den Hintern voll bekommen, daß ich nicht mehr hätte sitzen können — dann müßte ich jetzt nicht sitzen.‘ So sagte er wörtlich. Ja, Fräulein Silke…“

      „Gut, dann bin ich eben schuld“, sagte ich und fühlte plötzlich eine merkwürdige, bisher nie gekannte Kraft in mir aufsteigen. Mir war, als hätte mir jemand etwas Schweres auf die Schultern gelegt, eine Last, von der ich dachte, ich würde darunter zusammenbrechen oder sie abwerfen wollen. Aber ich merkte, wie meine Schultern sich strafften. Ich sah Ulis junges Gesicht vor mir, seine dunklen Augen — und auch Rolands Grübchen, die noch immer in seine Wangen kommen, wenn er lacht. Ich sagte:

      „Ich nehme die Verantwortung auf mich. Ich vergesse nicht, was Sie mir erzählt haben. Aber es muß nicht so kommen, wie es dort kam. Lassen Sie mich sorgen. Mit den beiden andern kommen meine Brüder nicht mehr zusammen, das können Sie glauben! Dafür bin ich da. Und auch sonst.“

      Er sah mich an, lange, gleichzeitig traurig und gütig. Er sagte nichts. Ich verabschiedete mich. Er hielt meine Hand in seiner alten, trockenen, warmen Uhrmacherhand mit den sensiblen, feinfühligen Fingern.

      „Alle meine Wünsche sind mit Ihnen, Fräulein Silke“, sagte er schließlich leise und ernst. Ich hätte ihm um den Hals fallen können vor Dankbarkeit, weil und wie er das sagte. „Mit Ihnen und mit Ihren Brüdern. Und — na ja, vielleicht haben Sie sogar recht. Jugend hat sehr oft recht —“

      „Womit?“ fragte ich aufhorchend. Seine letzten Worte klangen zögernd, ein wenig unsicher.

      „Ach, ich meine nur. Nein, eine Schwester hatte jener Verurteilte wohl nicht…“

      Ich kam heim, zum Platzen geladen mit Energie. Die Jungen saßen auf der Bank unseres Sitzplatzes und machten angeblich Schularbeiten. Viel war wohl noch nicht zustande gekommen.

      „Ich habe es also erreicht. Er sagt nichts“, teilte ich als erstes mit. Ulis dunkle Augen blitzten — ich fuhr sofort auf ihn los.

      „Denk jetzt aber nur nicht —“

      „Ich denke gar nicht, und außerdem sind die Gedanken bekanntlich frei“, sagte er. Aber seine Frechheit war wohl nicht ganz echt.

      „Und du, Roland, — ich finde, du hängst genauso drin wie Uli. Ob man nur zusieht und nicht verhindert, oder ob man mitmacht, das kommt aufs gleiche heraus, also blas dich bloß nicht auf! Ihr sitzt beide in der Patsche oder seid beide nochmal herausgekommen! Und mit Horst und diesem Uwe da — wenn ich euch nochmal mit denen erwische —“

      „Dann?“ fragte Roland. Es sollte spöttisch und selbstherrlich klingen, aber es wirkte ziemlich kläglich. Das tat mir gut.

      „Dann Gnade euch!“ vollendete ich finster.

      Mutter mußte ich anlügen, daran führte kein Weg vorbei. Ich hatte mir auf dem Heimweg alles genau zurechtgelegt.

      „Sie waren es nicht“, sagte ich also, nachdem ich mit den Jungen gesprochen und sie zu Stillschweigen verpflichtet hatte. „Ich war bei Grulich und habe mich erkundigt, damit du beruhigt bist. Er weiß, wer es war. Er hat es mir auch gesagt. Aber ich habe ihm versprochen, es niemandem weiterzusagen. Frag mich also bitte nicht.“

      Mutter

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