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— —“

      „Geraucht haben sie auch!“ Roland platzte fast vor Mitteilungslust. „Und Petroleum ausgeschüttet. Dort ist natürlich kein Strom. Und Schneckentod ’rumgestreut —“

      „Schneckentod?“

      „Ja, solches Zeug, das lag da in Tüten. Und Samen — und dann die Bücher, die da standen.“

      „Und ihr habt mitgemacht?“ fragte ich. Ich bekam fast keine Luft mehr vor unterdrücktem Zorn und wilder Empörung.

      „Uli hat mitgemacht“, sagte Roland, „nur Uli. Ich war mit drin, aber ich hab’ nichts angerührt.“ Er machte dabei ein Gesicht, daß ich ihm am liebsten nochmal eine gelangt hätte. Obwohl ich natürlich wußte, daß eher Uli die Ohrfeigen verdiente.

      „Hast du wirklich?“ fragte ich ihn.

      Er nickte.

      „Und warum?“

      Achselzucken.

      „Haben die andern gesagt, es sei feige, nicht mitzumachen?“

      „Hm. Aber eigentlich — das haben sie zu Roland gesagt. Und erst später.“

      „Als du schon mitgemacht hattest? Und warum hast du mitgemacht?“

      Wieder Achselzucken. Ich versuchte, Ulis Blick zu fangen. Er wich mir aus, sah kalt und hochmütig aus. Blaß war er nicht mehr, seine Haut hatte ihre normale sanftbräunliche Farbe. Uli hat eine Haut, um die viele aus meiner Klasse ihn beneiden, so gleichmäßig und mattglänzend ist sie — und um die Oberlippe sah ich jetzt zum ersten Mal einen zarten, dunklen Flaum. Schwarzhaarige bekommen den Bart zeitig — es rührte mich. Ich sagte nichts mehr.

      Wir trennten uns dann, die beiden mußten über die Kreuzung in die Kayserstraße und ich nach links zu unserer Schule. Ich ging schnell aus Gewohnheit. Eine aus den oberen Klassen puffte mich mit dem Rad, weil ich überhaupt nicht achtgab. Sie schimpfte. Mir war es egal.

      2

      In den ersten Stunden saß ich da und dachte immerzu nach. Ich wußte nicht einmal, welches Fach gerade dran war. Später wachte ich dann auf. Inge, die neben mir sitzt, fragte, ob ich Liebeskummer hätte. Liebeskummer — ich zeigte bloß an die Stirn. „Ihr habt Sorgen!“ murmelte ich. In Biologie kam ich dann dran und mußte mich zusammennehmen. Weil mich Biologie interessiert, ging es dann auch.

      Inge dachte zuerst, sie müsse mir vorsagen. Aber das war nicht nötig. Es handelte sich um den Blutkreislauf. Darüber weiß ich Bescheid, weil ich ihn sehr interessant finde, gut durchdacht, sozusagen. Später möchte ich gern Medizin studieren.

      Zum erstenmal an diesem Tage wurde ich meine Bedrückung etwas los. Als ich mich setzte, markierte Inge unter der Bank Beifallklatschen. Ich trat sie ins Schienbein. Sie stöhnte übertrieben und tat, als sei es gebrochen.

      Die nächste Stunde hatten wir Französisch. Unser Französischlehrer ist sehr beliebt, jung noch, er unternimmt in den Ferien immer etwas mit Schülerinnen. Einmal fuhr er mit allen aus der Klasse, die mitdurften, nach Frankreich, um Kriegsgräber zu pflegen. Und dieses Jahr leitet er ein deutsch-französisches Ferienlager in der Lüneburger Heide. Ich habe bisher nie so etwas mitmachen dürfen. Aber für dieses Jahr habe ich die Erlaubnis bekommen.

      Wenn ich daran denke, ist mir immer, als könne ich tiefer atmen. Frei sein — endlich einmal frei sein, nicht immerzu hören: „Halt dich gerade!“ „Sei nicht so laut!“ „Hast du schon Schularbeiten gemacht?“ „Du könntest mir eigentlich flink —“ und dann kamen die Aufträge. Einmal hinaus, nicht mehr gegängelt werden, machen können, was man will. Wird das wohl tun!

      Früher fuhren wir mit den Eltern in den großen Ferien nach Flensburg zu den Großeltern. Sie wohnen ziemlich nahe am Strand, und wir hatten dort schöne Ferien, jedes Jahr. Jetzt seien die Großeltern zu alt, sagt Vater — vielleicht will er aber auch die Reisekosten sparen. Seit wir gebaut haben, geht es bei uns immer ums Sparen. Ständig heißt es: „Ihr wißt, unser Haus! Wir müssen erst einmal die Schulden loswerden.“ Und wenn wir erzählen, daß unsere Klassenkameraden eigentlich alle verreisen, dann heißt es:

      „Ihr habt den Garten, und das Schwimmbad ist auch nicht weit. Andere Kinder wären froh, wenn sie es so hätten. Seid dankbar…“ Dabei haben wir in den Ferien natürlich die gleichen häuslichen Pflichten wie in der Schulzeit, wenn nicht noch mehr: „Hilf mal, faß mal mit an, du hast doch Zeit!“ Und was nützt das eigene Haus, wenn wir drin still sein müssen wie in einer Mietwohnung, und der Garten, wo man sich nicht auf den Rasen legen und ungestört schmökern darf?

      „Was sollen denn die Nachbarn sagen!“ heißt es dann. „Komm, hilf mir beim Einkochen.“

      Dieses Jahr darf ich also das erstemal fort. Mutter hat es fest versprochen und Vater halb fest — wie es so seine Art ist: „Mal sehen, wie du dich bis dahin benimmst.“ Das macht mich wütend. Ich bin kein Kind mehr, das belohnt wird, wenn es ‚brav‘ war. Ich brauche meinen Urlaub genau wie jeder andere Mensch, und zu Hause habe ich keinen Urlaub.

      Aber diesmal darf ich ja mit.

      „Ich habe auf der Karte nachgesehen, wohin wir fahren“, sagte Inge. „Es muß schön dort sein. Und Französisch lernt sich schnell, so die Umgangssprache, meine ich, wenn man gezwungen ist, sie zu sprechen. Ich borg’ dir ein Heft, darin stehen vielleicht hundert Redensarten, die man täglich braucht — wenn man sich die ansieht, ist man sozusagen schon firm.“

      „Fährt die Frau von Elias auch mit?“

      Elias ist der Spitzname unseres Französischlehrers.

      „Ja, sie hat jetzt fest zugesagt. Voriges Jahr war sie auch dabei. Sie machte abends immer Spiele mit uns und brachte uns Lieder bei, die wir noch nicht kannten, sehr schöne, meist französische, aber auch englische und sogar finnische. Die mag ich am meisten, sie klingen so traurig. Dieses Jahr nimmt sie auch ihren Sohn mit, er ist jetzt drei. Voriges Jahr war er bei seinen Großeltern und sie schrieb ihm immer Karten. Er ist süß, ganz blondlockig, wie ein Mädchen — zum Fressen.“

      „Inge Hohlfeld, Sie können wohl den Mund nicht halten“, kam es jetzt verzweifelt von vom. „Ich beobachte Sie jetzt seit sieben Minuten…“

      „Blöd genug“, murmelte Inge noch, ehe sie endlich schwieg. Auch ich war still. Aber ich dachte nur noch an die Heide und an unser Lager. Und über der Vorfreude vergaß ich fast meine Sorgen um die Jungen.

      Auch auf dem Heimweg malte ich mir aus, wie es im Lager sein würde. Sicher dürften wir Handball spielen, solange wir wollten, nicht nur die letzten zehn Minuten von der Turnstunde. Wir würden uns Geschichten erzählen und neue Lieder lernen. Und wie wohl die jungen Französinnen waren?

      Die Jungen und ihre kriminelle Sache… ach, ich wollte nicht mehr daran denken. Vielleicht kam es gar nicht heraus. Und außerdem — was konnte ich dafür? Bestimmt nichts. Deshalb konnten die Eltern mir meine Sommerfahrt nicht verbieten!

      So kam ich recht wohlgemut nach Hause. Mutter war allein. Sie sah aus, wie ich sie nur einmal gesehen hatte — damals, als Vater auf dem Gehsteig vor unserm Haus zusammengebrochen war und ihn zwei Männer ins Haus trugen. Er mußte danach lange liegen, und seitdem ist es so unerträglich bei uns mit dem ewigen „Seid still!“ und „Leise, leise!“ Er hatte sich so über einen der Bauarbeiter geärgert, daß sein Herz versagt hatte. Mutter dachte, er wäre tot.

      Ja, und jetzt sah sie fast so aus wie damals: blaß, mit Ringen unter den Augen und abgehärmt. Nur in ihrem Blick war noch etwas Hoffnung.

      „Gut, daß du allein kommst, Silke“, sagte sie sofort. „Ich habe so entsetzliche Angst. Sag — hältst du es für möglich —“

      „Was denn?“ fragte ich und wußte sofort, was sie meinte.

      „Daß die Jungen dabei waren. Daß sie es waren.“

      „Was?“

      „Tu doch nicht

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